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Ausgabe:

April/2012

Spalte:

444–445

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Döring, Hans-Joachim [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Lothar Kreyssig. Aufsätze, Autobiografie und Dokumente.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011. 226 S. m. Abb. 23,0 x 15,5 cm. Kart. EUR 14,80. ISBN 978-3-374-02909-9.

Rezensent:

Gert Haendler

Nach einem Geleitwort von seinem Sohn Jochen Kreyssig und einer Einleitung des Herausgebers bietet Anke Silomon einen Überblick: »Lothar Kreyssig – Realistischer Visionär, Prophet und Schwärmer«. Der deutsch-nationale Jurist wurde Mitglied der BK und widerständiger Richter. Ab 1945 wirkte Kreyssig in Magdeburg für die Kirchenprovinz Sachsen, die Kirche der APU, die EKD und in der Ökumene. Die Forderung von Bischof Meiser, die APU möge sich wegen fehlender Bekenntnisgrundlage auflösen, wies Kreyssig 1951 zurück (27). 1958 regte Kreyssig die Aktion Sühnezeichen an. Nach dem Mauerbau 1961 arbeitete er weiter in Magdeburg unter Verzicht auf seine gesamtdeutschen Ämter bis zur Pensionierung 1971. »Das scheinbar negative Etikett des Schwärmers war vielleicht sogar das Geheimnis seines Erfolges.« (35)
Lothar Gruchmanns Beitrag »Ein unbequemer Amtsrichter im Dritten Reich« wertet Personalakten aus. Er schildert Kreyssigs Weg zur BK 1933 als Landgerichtsrat in Chemnitz. Kreyssig äußerte sich so deutlich, dass man schon 1935 seine Entlassung forderte, aber das Ministerium für Justiz hielt ihn. 1937 erbat Kreyssig einen längeren Urlaub, um einen gekauften Bauernhof zu führen, danach erreichte er die Versetzung nach Brandenburg, um seinem Hof nahe zu sein. 1940 protestierte er gegen die Anfänge der Euthanasie, 1942 schickte man ihn – erst 44 Jahre alt – in den vorzeitigen Ruhestand. Die Einstufung als Überzeugungstäter mit ehrenhaften Motiven war sonst im Dritten Reich längst abgeschafft. Kreyssig sah die Tatsache, dass er unbehelligt blieb, als ein »reines Wunder« (49).
Es folgen Beiträge von Preisträgern der Stiftung Lothar-Kreyssig-Friedenspreis. Tadeusz Mazowiecki: »Feinde werden Freunde oder von der Gegenwart zur neuen Nachbarschaft (1991/1999)« (Erstdruck Warschau 1994); Hildegard Hamm-Brücher: »Danksagung für den Lothar-Kreyssig-Friedenspreis« (2001); Günter Särchen: »Mahnmal – Klagemauer – Ort der Sendung. Erinnerungen an Besuche im Dom zu Magdeburg 1989/1961/1982« (2003). Arbeiten vom Lothar-Kreyssig-Ökumenezentrum der EKM kommen von Joachim Garstecki: »Von der Person zur Sache. Impulse auf dem Weg« (2009), und Erardo C. Rautenberg: »Lothar Kreyssig – ein ›verwandelter‹ Jurist« (2011).
Auszüge aus Kreyssigs autobiographischem Bericht »Warum? Wozu? Wieso?« bieten Details u. a. zum Anfang der BK in Sachsen und Kriegsende in Brandenburg. Kreyssig hat Otto Dibelius »Wie einen Vater lieben gelernt« trotz oft gegensätzlicher Meinungen (124 f.). Im Rat der EKD stand er mitunter Niemöller nahe. Zur Wie­derbewaffnung 1958 meint Kreyssig im Rückblick nach 20 Jahren, dass eine Ablehnung so unrealistisch, wie es nach Luthers Lehre von den beiden Reichen »zur Linken Gottes« sein sollte, nicht mehr scheine (133). Zumal die letzten Abschnitte »Versöhnungsdienst und Sühnezeichen« sowie »Die Communität – der Ruf ins Leere« (133–139) liest man bewegt, da Kreyssig offen davon spricht, dass sich manche ihm be­sonders wichtigen Pläne nicht erfüllt haben.
Aus den Dokumenten seien drei Abschnitte zitiert. Am 8. Juli 1940 berichtet Kreyssig dem Reichsjustizminister über die beginnende Euthanasie. Er weiß um den großen Aufwand an Pflege für Menschen, die nur »ein fast tierhaftes Leben führen«. Aber dann sagt er zum Euthanasie-Problem: »Leben ist ein Geheimnis Gottes. Sein Sinn ist weder im Blick des Einzelwesens noch in dessen Bezogenheit auf die völkische Gemeinschaft zu begreifen. Wahr und weiterhelfend ist das, was Gott uns darüber sagt. Es ist darum eine ungeheuerliche Empörung und Anmaßung des Menschen, Leben beenden zu dürfen, weil er mit seiner beschränkten Vernunft es nicht oder nicht mehr als sinnvoll begreift« (144).
Ein Stasiprotokoll vom 17. Juni 1957 hält im Detail fest: »Auf der Synode der EKD in Berlin-Spandau 1957 befürwortete er als einziger Synodaler mit Wohnsitz in der DDR die Annahme der Vorlage bezgl. der Militärseelsorge, wobei er scharfe Angriffe vor allem gegen Niemöller und Prof. Heinrich Vogel – Berlin richtete.« (193) Ein Stasiprotokoll vom 10. März 1960 vermerkt: »Kreyssig ist innerhalb der Magdeburger Kirchenleitung die reaktionärste Person. Aufgrund seiner einflussreichen Funktion hat Kreyssig ständig seinen feindlichen Einfluß geltend gemacht. Zur Zeit ist er der größte Scharfmacher gegen ein gutes Verhältnis von Staat und Kirche. Die neuesten Fakten seiner feindlichen Haltung zeigten sich darin, daß Kreyssig im westdeutschen Fernsehen aufgetreten ist.« (202)
Der Band erschien zum Gedenken an Kreyssigs 25. Todestag und enthält wertvolles Quellenmaterial. Er zeigt Kreyssigs große Be­deutung für die Kirchenpolitik, deren Wurzeln freilich in seiner Frömmigkeit liegen, die in staatlichen Dokumenten nicht erfasst wird. Daher ist der Abdruck von zwei Gedichten wertvoll (207).