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Ausgabe:

April/2012

Spalte:

439–442

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kupke, Anne-Kristin

Titel/Untertitel:

Die Kirchen- und Schulvisitationen im 17. Jahrhundert auf dem Gebiet der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens. Mit einem Repertorium der Visitationsakten.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2010. 560 S. 24,0 x 17,0 cm = Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 30. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-374-02762-0.

Rezensent:

Andres Straßberger

Die Monographie von Anne-Kristin Kupke geht auf eine Leipziger kirchengeschichtliche Dissertation zurück (Gutachter: Helmar Junghans †, Wolfgang Sommer, Günther Wartenberg †), die im Mai 2005 erfolgreich verteidigt wurde. Für den Druck scheint der Text nur geringfügig überarbeitet worden zu sein. Der Inhalt gliedert sich in einen 342 Seiten umfassenden Abhandlungs- und einen rund 200 Seiten umfassenden Anhangsteil. Dieser enthält nicht nur verschiedene Quellentexte, Personallisten, Landkarten, statistische Erhebungen, ein Glossar sowie ein Quellen- und Literaturverzeichnis (welches als Anhang IV, 389–412, recht weit vorn platziert ist, weshalb ohne ein eingelegtes Lesezeichen das Nachschlagen von Titeln während der Lektüre ziemlich erschwert wird), sondern auch ein fast 100 Seiten umfassendes Repertorium der Visitationsakten im Untersuchungszeitraum (Anhang VI, 417–513). Ein unverzichtbares Personen-, Orts- und Sachregister schließen den Band ab.
Der Abhandlungsteil ist in fünf Hauptkapitel untergliedert. In der Einleitung (Kapitel I, 19–25) entwickelt die Vfn. in knapper Form ihre Themenstellung. Dabei rekurriert sie weniger auf bestimmte Forschungsmeinungen, sondern konstatiert vielmehr recht pauschal: »Das Bild des 17. Jahrhunderts wird wesentlich durch Kirchenordnungen, juristische und theologische Werke, vor allem aber durch die z. T. berechtigte, doch auch überzogene Kritik des Pietismus geprägt.« (22) Auf diesen Befund bezieht die Vfn. die wissenschaftliche Relevanz ihres Arbeitsvorhabens dann – ebenso pauschal – wie folgt: »Der oft zu beobachtende Fehler, die Wirklichkeit aus Zitaten der Kirchenordnungen darstellen zu wollen, muss vermieden werden. Um die reale Situation zu eruieren, kön nen die Visitationsakten als wichtige Quelle herangezogen werden.« (ebd.) Unter diesem Gesichtspunkt beabsichtigt die Vfn., einen historischen Beitrag zur Quellengattung der Visitationsakten bzw. dem kirchenpolitischen Instrument der Kirchenvisitationen zu leisten. Die Erkundung ihres Untersuchungsgegenstandes erfolgt dementsprechend nicht theoriegeleitet oder problemgeschichtlich. Vielmehr sind für die Arbeit folgende drei Perspektiven forschungsleitend: »1. Welche Stellung hatte die Visitation im landesherrlichen Kirchenregiment? Welche Personen und Gruppierungen waren an den Visitationen interessiert? … 2. Welche formalen und strukturellen Merkmale wiesen Visitationen auf? Welche Entwicklungen bestimmen und beeinflussten den Ablauf, die Auswertung und die Wirkung der Visitation? … 3. Welche Bedeutung hatte die Visitation für die Entwicklung der sächsischen Landeskirche im 17. Jahrhundert? Welchen quellenhistorischen Wert für die Kirchengeschichtsschreibung haben die Visitationsakten?« (19 f.) Die Gliederung der Arbeit lehnt sich an diese Fragen an.
Das zweite Kapitel widmet sich zunächst der »Visitation als Element des landesherrlichen Kirchenregiments« (Überschrift; 27–133). In fünf Unterkapiteln untersucht die Vfn. »(d)as landesherrliche Kirchenregiment 1597–1610 im Streit zwischen kurfürstlichen Räten und dem Ersten Hofprediger Polycarp Leyser«, die »Vorbereitung und Auswertung der General- und Lokalvisitationen von 1617 bis 1625«, die »Visitationen in den Stiften Meißen, Merseburg und Naumburg-Zeitz und den Herzogtümern Sachsen-Merseburg und Sachsen-Zeitz 1598–1656«, die »Folgen der Erbteilung auf das Visitationswesen und das landesherrliche Kirchenregiment 1657–1670« sowie die »Generalvisitation des Primogeniturfürstentums 1670–1675« (Teilkapitelüberschriften). Eine wichtige Erkenntnis dieses Abschnitts ist: »Was sich schon in den Visitationen 1617–1624 als problematisch erwiesen hatte, wurde bei der letzten Generalvisitation 1670–1675 offenkundig: Der Versuch einer gleichzeitigen Visitation des gesamten Kurfürstentums war fehlgeschlagen.« (131)
Das dritte Kapitel geht detailliert der Frage nach, inwiefern die Visitationsakten das tatsächliche Visitationsgeschehen abbilden. Dieser Teil der Untersuchung, der wichtige Darlegungen zum historiographischen Wert von Visitationsakten enthält, gibt ebenso zahlreiche wie lehrreiche Informationen zum konkreten Ablauf der Visitationen und den dafür überlieferten Aktenbeständen (135–229). Auffällig ist in diesem Kontext u. a. die »enorm[e] Zunahme des Umfangs und der Anzahl der schriftlich eingereichten Unterlagen« (227).
Im vierten Kapitel untersucht die Vfn. am Beispiel der Katechismusunterweisung in der zweiten Hälfte des 17. Jh.s und des Elementarschulunterrichts um 1670 regional vergleichend einige As­pekte des kirchlichen Lebens »im Spiegel der Visitationsakten« (Überschrift; 231–336). Von ganz erheblicher Bedeutung für Fragen der historischen Bildungsforschung scheinen dem Rezensenten die Ausführungen zum Schulwesen zu sein. Nicht weniger interessant sind zum Teil auch die Ausführungen zum Katechismusunterricht. Allerdings wird hier auf rund 50 Seiten ein Thema angeschnitten, das vom Umfang und der kirchengeschichtlichen Be­deutung her eigentlich Stoff für eine (dringend zu wünschende) monographische Untersuchung bietet. So erschöpft sich die Darstellung, z. B. zur Praxis der Katechismuspredigt (264–267), nicht selten in bloßen Andeutungen. An einer Stelle relativiert die Vfn. die Aussagekraft der Visitationsakten für dieses Thema wie folgt: »Der Katechismusunterricht wie auch die Katechismuspredigten waren – zumindest für diese Ephorie [sc. ist Freiberg; A. S.] – damit ausgeprägter und umfassender als das Bild, das die Visitationsakten zeigen.« (264)
Die Schlussbetrachtung (Kapitel V, 337–342) lässt am Ende doch noch ein wesentliches forschungsstrategisches Motiv der Arbeit erkennen. In einigen Anmerkungen grenzt sich die Vfn. dezidiert und mit guten, aus ihren Quellen geschöpften Gründen von namhaften Forschungspositionen ab, die im Kontext der in den 1990er Jahren intensiv geführten Konfessionalisierungsdebatte (vgl. ThLZ 121 [1996], 1008–1024.1112–1121) geäußert wurden, wie z. B. die Ansicht, dass die Landesherren die Kirchenvisitation gleichsam als Instrument der Konfessionalisierung benutzt hätten. Diese u. a. von van Dülmen vertretene These kann die Vfn. für das von ihr be­arbeitete Territorium überzeugend widerlegen: »V[e]rsuche einer stärkeren Disziplinierung und einer durch Zwangsmaßnahmen angestrebten Vereinheitlichung blieben in Ansätzen stecken.« (341) Es wäre wohl sinnvoll gewesen, auf diese Forschungsperspektiven und damit auf diesen wichtigen Ertrag der Studie bereits in der Einleitung zu fokussieren.
Ebenso kann man bedauern, dass die Vfn. bei ihren Ausführungen die Pietismusforschung so gut wie gar nicht im Blick hat. Dem Rezensenten drängten sich bei der Lektüre permanent Fragen auf, was bestimmte Beobachtungen und Entwicklungen für das Aufkommen des Pietismus in Kursachsen und dessen Kritik am lutherisch-orthodoxen Kirchenwesen bedeuten könnten. Im Jahr 1675, dem Jahr des Erscheinens von Speners »Pia desideria«, endet die letzte Generalkirchenvisitation im Primogeniturfürstentum. Elf Jahre später kommt Spener als Oberhofprediger nach Dresden, wo er die bereits laufenden Bemühungen um eine Reform des Katechismusunterrichts aufnimmt und fortführt. Und 1689 eskaliert schließlich die pietistische Bewegung in Leipzig. Was halten die von der Vfn. untersuchten Quellen für diese kirchengeschichtlich bedeutsame Entwicklungslinie bereit? Wenngleich die Vfn. keine Arbeit zu diesem Thema vorlegen wollte, so meint der Rezensent doch, dass die oben zitierte Leitfrage 3, mit der u. a. nach der Bedeutung der Visitationen für die Entwicklung der sächsischen Landeskirche im 17. Jh. gefragt wurde, ein wenig auch diese Perspektive hätte in den Blick nehmen können. Ohne Zweifel hätte die Arbeit so unmittelbare Relevanz für die Pietismusforschung gewonnen.
Zusammenfassend kann geurteilt werden, dass die Vfn. mit ihrer Studie einen stellenweise faszinierenden, die Quellengattung »Visitationsakten« notwendig differenzierenden und aufgrund zahlreicher erhellender Einzelbeobachtungen wertvollen Einblick in die Praxis des Visitationsinstruments im 17. Jh. am Beispiel des kursächsischen Territoriums gibt. Wer sich in der Zukunft zu diesem Thema informieren und äußern will, kann an dieser Arbeit nicht vorbeigehen. Sie entzieht Pauschalansichten zur angeblichen Funktionalisierung der Visitation als bevorzugtem Instrument kirchlicher Disziplinierung und Konfessionalisierung den Boden. Ebenso verdienen die exemplarischen Ausführungen zum Katechismusunterricht und Elementarschulwesen aufmerksame Lektüre. Allerdings zeigen sich gerade an diesem Punkt auch die historiographischen Grenzen der Quellengattung »Visitationsakten«. Etwas bedauerlich ist, dass neben dem fehlenden Ausblick auf das Aufkommen des Pietismus in Kursachsen bei der Kernfrage nach der Ausgestaltung und Funktion des Visitationsinstruments die Möglichkeit einer vergleichenden Perspektive nicht genutzt wurde, etwa im Blick auf die Gothaer Generalkirchen- und Schulvisitation von 1641–1645. Die zwei von der Vfn. im Literaturverzeichnis genannten Arbeiten Veronika Albrecht-Birkners hätten dazu eine gute Basis geboten. Von ganz erheblichem Wert für weitergehende Forschungen ist zweifelsohne das in mühevoller Arbeit erstellte, im Anhang befindliche Repertorium der Visitationsakten. Dieses bietet grundlegende Informationen zu jeder Visitationsreise und den darauf bezogenen Akten. Allen Interessierten wird damit ein äußerst bequemer Zugang zu den Quellen eröffnet. Bleibt zu hoffen, dass das Angebot, das die Vfn. der Forschung damit unterbreitet, intensiv genutzt wird. Die Tür dazu wurde jedenfalls weit aufgestoßen. Nicht zuletzt dafür gebühren der Vfn. großer Dank und Anerkennung.