Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2012

Spalte:

437–439

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bütikofer, Kaspar

Titel/Untertitel:

Der frühe Zürcher Pietismus (1689–1721). Der soziale Hintergrund und die Denk- und Lebenswelten im Spiegel der Bibliothek Johann Heinrich Lochers (1648–1718).

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. 608 S. m. Abb. u. Tab. 23,2 x 15,5 cm = Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 54. Geb. EUR 100,95. ISBN 978-3-525-55841-6.

Rezensent:

Peter Opitz

Im Anschluss an historiographische Ansätze, die von der »Rekonstruktion historischer Lebenswelten« (21) ausgehen, unternimmt es die Studie von Kaspar Bütikofer, auf der Grundlage eines vielfältigen Quellenmaterials im Umfeld des Zürcher frühpietistischen »Propagandisten« (428) Johann Heinrich Locher, sozialgeschichtliche, religiös-theologische und politikgeschichtliche Perspektiven dieser Bewegung auszuloten.
Der erste Teil (23–107) fragt nach der Sozialstruktur des frühen Zürcher Pietismus. Die dazu notwendige Quellenbasis findet sich vornehmlich in den amtlich dokumentierten Pietistenprozessen, wie sie um 1698 und dann im Zeitraum zwischen 1714 und 1721 in Zürich stattgefunden haben. Die auswertbare Datenmenge ist naturgemäß begrenzt, andererseits aber für historische Phänomene aus diesem Zeitraum nicht sonderlich schlecht. Der Vf. wertet sie nach regionaler Verteilung, Geschlecht, Altersstruktur, sozialer Schichtung und Berufskategorien minutiös und mit der gebotenen Vorsicht zugleich aus und gelangt bereits so zu Korrekturen an bestehenden Interpretationsmodellen: Der Zürcher Pietismus fußt auf einem gesellschaftlichen Segment, das in »der Mitte der Ständegesellschaft zu verorten« ist. Weder war es, wie in der Forschung insbesondere für den »radikalen« Pietismus behauptet, besonders das handwerkliche Milieu, welches zu pietistischen Ge­danken neigte, noch waren es bestimmte soziale Existenzängste, welche den Nährboden für pietistisches Gedankengut bildeten. Trägerin dieses Zürcher Frühpietismus, der sich im Übrigen vom sog. »Radikalpietismus« nicht nur nicht klar abgrenzen lässt, sondern zu einem guten Teil aus entsprechenden Quellen nährt, war im We­sentlichen eine »Bildungselite«, bestehend aus Kaufleuten, Theologen, Staatsdienern und Gebildeten (105); somit war es eine gesellschaftliche Gruppe, die durch Stand und berufliche Tätigkeit wesentlich zur Stabilität eben derjenigen gesellschaftlichen Ordnung beitrug, die sie durch ihre pietistische Haltung katalysatorisch zu untergraben begann.
Den umfangmäßig größten Teil der Arbeit bildet – für eine be­wusst sozialgeschichtlich einsetzende Studie etwas überraschend – die Erkundung des gedanklichen Milieus des Zürcher Frühpietismus (108–438). In Gestalt der listenmäßig erfassten Bibliothek des bibliophilen Zürcher Kaufmanns Locher, dem im Jahre 1698 von der Zürcher Obrigkeit 283 Bücher konfisziert und davon schließlich lediglich 99 als ungefährlich eingestufte Bände wieder zurückgegeben worden waren, ist auch hier eine reiche Quellengrundlage gegeben (108.523–531). Die Darstellung der »Denk- und Lesewelt« (21) Lochers gliedert sich in fünf Themenkreise: Der mit Johann Arndt einsetzenden Wiedergeburtslehre (122–218) schließt sich ein Blick in mystisch-esoterische Varianten dieser Lehre an (219–277). Es folgen die Themenbereiche des »Hermetismus« und »Paracelsismus« (278–315), der Endzeiterwartung (316–362) und der Allversöhnungslehre (363–438). Man spürt bei der Lektüre dieses Teiles durchaus noch etwas von der Entdeckerfreude des Vf.s, der sich als Nichttheologe nach eigenem Bekunden auf das »Abenteuer« eingelassen hat, in eine »entlegene Ideenwelt« (9) einzudringen. Diese ist wahrhaftig beeindruckend vielschichtig, findet sich doch im Bücherbestand der Locherschen Bibliothek nahezu alles, was sich mit dem Sammelbegriff »Radikalpietismus« an Literatur verbinden lässt, so dass sich dieser zweite Teil der Arbeit geradezu als kleines Kompendium radikalpietistischen Schrifttums von der mittelalterlichen Mystik bis hin zum Quäkertum ausnimmt. In geschickter, aber plausibler Weise gelingt es dem Vf. zudem, das hier entfaltete Gedankengut mit dem pietistischen Lebens- und Leseweg Lochers zu verknüpfen.
Als ein Ertrag dieses weiten Umlaufs im Blick auf die Genese des Zürcher Pietismus kristallisiert sich die Komplexität sowohl der gedanklichen Einflüsse als auch der Kommunikationswege heraus. Schon sehr früh standen die ersten Zürcher Pietisten mit verwandten Frömmigkeitszentren in Deutschland und den Niederlanden im Austausch, nicht zuletzt mit solchen, die der »reformierten« Tradition zuzurechnen sind. Sie scheinen insbesondere von Autoren angeregt worden zu sein, die später unter dem Begriff »Radikalpietismus« rubriziert werden (vgl. 504), während etwa Philipp Jakob Spener »höchstens eine kleine Nebenrolle« (428) gespielt zu haben scheint.
Im dritten Teil der Studie (439–501) schließlich, der sich dem Themenkomplex Pietismus und Politik widmet, versucht der Vf. zunächst, »das Politische aus den religiösen Hoffnungen herauszulesen« (442 f.), die sich in Texten der Bibliothek Lochers finden. In einem zweiten Schritt wird anschließend nach dem Anteil des Pietismus an der Zürcher Verfassungsbewegung von 1713 gefragt. Die zweifellos erfolgte (radikal)pietistische Kritik an politischen Missständen und der dabei angelegte ethische »Gradmesser der guten Herrschaft« (486) in Form des tatsächlichen moralischen Handelns der Obrigkeit lässt den Schluss zu, dass im frühen Zürcher Pietismus »ein gerütteltes Maß an politischer Radikalität« mitschwingt (498).
Damit ist der übergreifende Interpretationsrahmen angedeutet, auf den bereits im Verlauf der Untersuchung immer wieder rekurriert und der schließlich in einer »Schlussbetrachtung« (427–438) noch einmal explizit zum Thema gemacht wird: Erklärtes Ziel der Arbeit ist es, »den Beitrag dieser Frömmigkeitsbewegung am Fortschritt und an der Entstehung der Moderne aufzuzeigen« (503). Der Vf. sieht einerseits einen solchen Beitrag als gegeben an und ortet ihn nicht nur in der zunehmenden religiösen Individualisierung und beginnenden Sozietätenkultur, welche die korporativ überkommenen und verpflichtenden religiösen Normen in Frage stellen, sondern darüber hinaus besonders in einer individuellen Leistungsreligion: Die zentrale Bedeutung des Wiedergeburtsgedankens, als gemeinsames frühpietistisches Band in aller religiös-thematischen Heterogenität, legt alles Gewicht auf »die eigene religiöse Leistung, die zur Wiedergeburt und zum Heil befähigt« (502). Eine derartige religiöse »Werkethik« (166 f.277.434.503) wiederum zeitigt früher oder später sozio-politische Früchte, sodass es erlaubt ist, von einer »Vorbereiterfunktion des (radikalen) Pietismus zur Ausbildung einer für das moderne Bürgertum konstitutiven Mentalität« (433) zu sprechen.
Es ist eine ausgesprochene Stärke der Untersuchung, detaillierte Quellenarbeit mit einem übergreifenden Interpretationsrahmen so zu verbinden, dass sich die Analysen der Einzeltexte und die Gesamttheorie gegenseitig befruchten und – begrenzen. Damit werden Erstere spannend und Letztere wird im Endresultat moderat (und in relativer Abgrenzung gegen Max Weber) formuliert: Angesichts zahlreicher Ambivalenzen nicht zuletzt auf dem Feld des religiösen Weltverständnisses (vgl. 434) innerhalb des frühen Pietismus scheint es nicht angebracht, von allzu geradlinigen und ursächlichen pietistischen Impulsen für die »Moderne« zu sprechen. Auch für diesen gilt, dass »historische Prozesse … selten linear auf ein anvisiertes Ziel« hinlaufen (503). Und gleichzeitig gibt es durchaus zahlreiche Hinweise, die solche Impulse nahelegen (107. 433 f.) und die Bewegung zweifellos als »Phänomen eines Übergangs« (504) erkennen lassen.
Die Breite des herangezogenen Quellenmaterials, die Vielzahl der Perspektiven und die umsichtige Verschränkung von ge­schichtstheoretischer Kategorisierung und Detailanalyse machen dieses Buch zu einem Referenzwerk nicht nur für den Zürcher Frühpietismus.