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Ausgabe:

April/2012

Spalte:

435–437

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Breul, Wolfgang, Meier, Marcus, u. Lothar Vogel [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010 (2., durchges. Aufl. 2011). 480 S. 23,2 x 15,2 cm = Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 55. Geb. EUR 71,95. ISBN 978-3-525-55839-3.

Rezensent:

Christopher Spehr

Die Erforschung des sog. radikalen Pietismus in Deutschland ist mit dem Namen Hans Schneider verbunden. Seit seinem Forschungsbericht im Jahrbuch Pietismus und Neuzeit 1982/83 zählt der Marburger Kirchenhistoriker zu den Impulsgebern der Pietismusforschung. Anlässlich seiner Emeritierung organisierten seine Schüler Wolfgang Breul, Marcus Meier und Lothar Vogel Ende März 2007 eine internationale und interdisziplinäre Tagung zum radikalen Pietismus in Marburg, deren Beiträge im angezeigten Sammelband vorliegen.
In dem voluminösen Werk werden einerseits grundsätzliche Fragen zum Begriff und Gegenstand des radikalen Pietismus diskutiert, andererseits wird der Forschungsstand in Einzelstudien verlebendigt. Während bereits zeitgenössische Pietismusgegner wie Valentin Ernst Löscher zwischen »groben« und »subtilen« Pietisten differenzierten, etablierte sich in der Kirchengeschichtsschreibung seit Albrecht Ritschls Geschichte des Pietismus Bd. 2 (1884) der Begriff des »radikalen Pietismus«, an dem die Herausgeber des Sammelbandes anknüpfen.
Der begrifflichen Tiefenschärfung dienen die nicht zuletzt aufgrund ihrer Gegensätzlichkeit komplementär zu lesenden Beiträge der Altmeister der Pietismusforschung Martin Brecht und Johannes Wallmann. Brecht (11–18) weist in seinem Problemaufriss auf die begriffliche Unschärfe des Konzeptes »radikaler Pietismus« hin, welches in der Regel in Abgrenzung zu seiner kirchlichen Entsprechung verwendet wird. Gleichwohl konnten radikale Positionen sowohl gemeinpietistisch als auch als Alternative zum kirchlichen Pietismus vorkommen. Weil bereits das Adjektiv »radikal«, dessen Bedeutungsgehalt von »tief wurzelnd«, »ursprünglich« über »ex-­trem« und »unvermittelt« bis hin zu »gewaltsam« reicht, in sich mehrdeutig ist, erscheint Brecht der Radikalismus zur Binnendifferenzierung des Pietismus als ungeeignet. Stattdessen plädiert er zur Charakterisierung extremer Positionen des Pietismus für die Verwendung der sich in der Forschung bewährten und dem kirchlichen Bezugsrahmen entstammenden Adjektive »separatistisch« und »heterodox«. Während sich der »separatistische Pietismus« von der Großkirche abgrenze, verweigere der »heterodoxe Pietismus« das kirchliche Bekenntnis. Trotz dieser auf die separatistischen und heterodoxen Übergänge innerhalb des kirchlichen Pietismus zielenden Differenzierung bietet Brecht gegenüber der »verkleisternden Kategorie radikal« (18) keinen wirklichen Alternativvorschlag. Wallmann (19–43) hingegen hält an der kirchengeschichtlichen Grundunterscheidung zwischen kirchlichem und radikalem Pietismus fest und verweigert sich unter Hinweis auf die Begriffsgeschichte der Suche nach Ersatzbegriffen. Stattdessen lenkt Wallmann die Aufmerksamkeit auf die Beantwortung von drei Fragen, die erstens die Defizite bei der Erforschung des »radikalen Pietismus«, zweitens die historische Priorität entweder des kirchlichen oder des radikalen Pietismus und drittens die Sinnhaftigkeit der Unterscheidung zwischen beiden Pietismusformen bei einer Erweiterung des Pietismusbegriffs betreffen. Im Zusammenhang der dritten Frage erläutert Wallmann überzeugend, dass die prinzipielle Grundunterscheidung für den auf das späte 17. und das 18. Jh. konzentrierten historischen Pietismusbegriff tragfähig ist und beibehalten werden sollte. Bei einer mit dem frühen 17. Jh. anhebenden und bis ins 20. Jh. reichenden Ausdehnung des Pietismusbegriffes wird hingegen die Unterscheidung von radikalem und kirchlichem Pietismus obsolet. Einerseits werde die Frühphase des Pietismus zwischen Johann Arndt und Philipp Jakob Spener von der jüngeren Forschung als mystischer Spiritualismus charakterisiert. Andererseits spiele die Unterscheidung bei der Erforschung der Pfingstbewegung und den charismatischen Bewegungen im 20. Jh. keine Rolle mehr.
Hartmut Lehmann (45–55) untersucht in seinem Beitrag die langfristigen Folgen der kirchlichen Ausgrenzung des radikalen Pietismus in Deutschland. Statt vom radikalen Pietismus möchte er lieber von »entschiedenen« oder »konsequenten Protestanten« (54) sprechen. Für die religiöse Situation in Deutschland stellt Lehmann im Vergleich mit den USA die diskussionswürdige These auf, die Vertreibung der radikalen Gruppierungen seit dem späten 17. Jh. habe zur Folge gehabt, dass in Deutschland bis ins 20. Jh. »kein offener religiöser Markt« entstanden sei (55).
Diesen orientierenden Beiträgen folgen Studien, die sich mit der Frage nach den Übergängen zwischen kirchlichem und radikalem Pietismus befassen. Veronika Albrecht-Birkner und Udo Sträter handeln über »Die radikale Phase des frühen August Hermann Francke« (57–84), Jürgen Büchsel skizziert anhand des Briefwechsels mit dem Gothaer Hofrat Tobias Pfanner »Gottfried Arnolds Verteidigung der Unparteiischen Kirchen- und Ketzerhistorie« (85–104) und Dietrich Blaufuß widmet sich Rosina Dorothea Schilling-Ruckteschel unter der Fragestellung »Eine Separatistin im Pietismus?« (105–128).
Der Beziehung von Pietismus und Täufertum gehen Marcus Meier (129–146) in seiner Untersuchung über »Eberhard Ludwig Grubers Grundforschende Fragen. Zur Binnendifferenzierung des radikalen Pietismus« und Jeff Bach (229–236) in seiner Studie zum »Pazifismus und die Schwarzenauer Neutäufer« nach. Mit der Herrnhuter Brüdergemeine als Brücke zwischen radikalem und kirchlichem Pietismus befassen sich Dietrich Meyer (147–158) und Thilo Daniel (159–170). Die Schweizer Varianten des radikalen Pietismus in ihren Beziehungen zu Deutschland analysiert Rudolf Dellsperger (171–187).
Weitere Aufsätze kreisen um das problematische Verhältnis zwischen radikalem Pietismus und staatlicher Obrigkeit. Markus Matthias (189–209) untersucht die radikalpietistische Privatreligion des preußischen Beamten Dodo II. von Innhausen und Knyphausen (1641–1698). Douglas H. Shantz (211–227) widmet sich in einem korrekturbedürftigen Beitrag dem Thema »Radical Pietist Migrations and Dealings with the Ruling Authorities as seen in the Autobiographies of Johann Wilhelm Petersen and Johann Friedrich Rock«. Und Konstanze Grutschnig-Kieser (237–247) führt in die geis­tige Atmosphäre des Landgrafenhofes Hessen-Homburg zwischen 1708 und 1746 ein, der Separatisten und Radikalpietisten in die staatliche Ordnung einzubinden wusste.
Die folgenden Beiträge sind einzelnen Personen oder Problemstellungen gewidmet. Jonathan Strom (249–269) befasst sich anhand von Jacob Fabricius und Friedrich Breckling mit der Debatte um Visionen und neue Offenbarungen, Lothar Vogel (271–292) mit der »Böhmerezeption in Gottfried Arnolds Sophienschrift« und Uwe Buß (293–301) mit dem radikalen Schuster Theodor Krahl. »Tersteegens Begriff der Mystik und der mystischen Theologie« illustriert kenntnisreich Gustav Adolf Benrath (303–325). Johann Georg Gichtel rücken Ruth Albrecht (327–359) und Aira Võsa (361–368) in den Mittelpunkt, während sich Ryoko Mori (369–384) auf die Entwick­lung des individuellen Bewusstseins im Pietismus konzentriert und Lucinda Martin (385–401) sowie Wolfgang Breul (403–418) Genderfragen thematisieren. Den Bogen zur Romantik spannt Hans-Jürgen Schrader (419–449) in seiner »pietistische Mitgiften« in Des Knaben Wunderhorn (1806) nachweisenden Studie.
Abgeschlossen wird dieser facettenreiche Sammelband, dem ein Personen- und Ortsregister beigegeben ist – ein Mitarbeiterverzeichnis fehlt hingegen –, durch Hans Schneiders (451–467) »Rück-blick und Ausblick«, der verschiedene Desiderata der Forschung zum radikalen Pietismus aufzeigt. Die Pietismusforschung ist mit diesem Buch, das kürzlich in zweiter Auflage erschien, einen bedeutenden Schritt vorangekommen.