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Ausgabe:

April/2012

Spalte:

433–435

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Weissenrieder, Annette, and Robert B. Coote [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Interface of Orality and Writing. Speaking, Seeing, Writing in the Shaping of New Genres.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. XVI, 438 S. m. Abb. 23,2 x 15,5 cm = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 260. Lw. EUR 129,00. ISBN 978-3-16-150445-7.

Rezensent:

Stefanie Lorenzen

Die Beiträge des Sammelbandes beschäftigen sich mit der Frage, wie verschiedene Medien die Kommunikation christlichen Gedankenguts in der Antike beeinflusst haben. Das Buch ehrt eine Pionierin auf dem Gebiet der »Mündlichkeitsforschung« im Neuen Testament, Antoinette Clark Wire, u. a. bekannt durch ihre Forschung zu den korinthischen Prophetinnen. Ein Großteil der Aufsätze entstammt Vorträgen, die im März 2009 anlässlich einer Konferenz im San Francisco Theological Seminary gehalten wurden.
Das Stichwort orality knüpft zwar an die alte Tradition der formgeschichtlichen Schule an, doch die Perspektive ist ausgeweitet. Im Fokus stehen nicht (nur) die mündlichen Vorstufen und der »Sitz im Leben« einzelner Perikopen, sondern das Zusammenspiel von Rede, visuellen Medien und Schrift bei der Entstehung der biblischen Texte. Gerade der Einbezug visueller Medien und ihrer Ikonographie verspricht in diesem Zusammenhang neue Einsichten, ebenso wie die Berücksichtigung der »Mündlichkeitsforschung« anderer kulturwissenschaftlicher Fachgebiete.
Das Buch besteht aus einem programmatisch ausgerichteten Einleitungsabschnitt und drei weiteren Teilen, die sich mit der Fragestellung unter spezieller Berücksichtigung des Redens, Se­hens und Schreibens auseinandersetzen, wobei die Beiträge sich dieser gattungsbezogenen Gliederung manchmal widersetzen.
Die Aufsätze des Einleitungsteils legen wesentliche Parameter dieser »mediensensiblen« Betrachtungsweise fest. Gegen die etablierte Vorstellung der Formkritik ist beispielsweise nicht länger davon auszugehen, dass es eine Bewegung von einfachen mündlichen »Vorstufen« hin zu komplexeren schriftlichen Einheiten gab. Vielmehr existierten nebeneinander sowohl komplexe mündliche Textformen als auch »einfache«, weil vielleicht »mündlich stilisierte«, Schriften (so Susan Niditch).
Auf das enge Zusammenspiel von schriftlichem Text und mündlicher Überlieferung in der rabbinischen Tradition geht die Studie von Catherine Heszer ein: Sie verdeutlicht eindringlich die Wichtigkeit von Rezitation und Auswendiglernen religiöser Texte in einer überwiegend oralen Kultur und die damit verbundene Situationsbezogenheit der mündlichen rabbinischen Tradition. Für die biblische Exegese ist dabei auch interessant, welch große Rolle sie dem Zufall bei der mündlichen Überlieferung der rabbinischen Traditionen zuschreibt: Erst die spätere Verschriftlichung bewahrt diese Überlieferung vor dem Vergessen; sie bleibt aber weiter auf die mündliche Auseinandersetzung angewiesen.
Ein provokanter und inspirierender Beitrag kommt von Antoinette Clark Wire selbst: Sie versteht das Markusevangelium nicht länger als von einem Redaktor Markus verfasste Schrift, sondern als Produkt einer Reihe von »Geschichtenerzählern« (storytellers), die das Evangelium vor Publikum mündlich darboten. Die Verschriftlichung sei dann durch Schreiber in einer Art schriftlicher »re-performance« geschehen.
Die Wechselwirkung zwischen der medialen Gestalt und dem Geltungsanspruch biblischer Schriften thematisiert der Aufsatz von Werner Kelber: Entgegen der vorherrschenden Vorstellung von einem Urtext, aus dem immer mehr Varianten hervorgehen, geht er von einer situationsbezogenen und variantenreichen Vielfalt mündlicher (und früher schriftlicher) biblischer Überlieferung aus, die sich immer stärker verengt, bis sie zur größtmöglichen Einheit in der gedruckten und damit autoritativen Bibelausgabe gelangt. Diese Mediengeschichte ist nicht wertfrei, sondern als eine Art »Verfallsgeschichte« konzipiert, der allerdings im Band selbst von Annette Weissenrieder und Kristina Dronsch widersprochen wird: Sie versuchen eine medientheoretische Neuausrichtung, indem sie die verschriftlichten Evangelien als plausiblen Versuch würdigen, mit der Abwesenheit der »Stimme Jesu« umzugehen.
Die Lektüre der programmatischen Beiträge macht die wesentlichen Konsequenzen dieser medienspezifischen Perspektiven auf die Exegese deutlich: Ebenso wie die Idee eines individuellen Autors »hinter« dem Evangeliumstext wird auch die damit verbundene Vorstellung eines originären Urtextes verabschiedet. Stattdessen werden Fragen nach (mündlicher) Komposition, Rezeption und »Darbietung« (performance) der Texte virulent – so John Miles Foley im zweiten Teil des Buches. Das führt u. a. zu einer neuen Analysemethode, dem performance criticism. Auch wenn man der Flut neuerer exegetischer Methoden misstrauisch gegenüberstehen kann – die Frage nach der Art und Weise, wie die biblischen Texte für ihr Publikum inszeniert wurden, verdient Aufmerksamkeit. David Rhoads entwirft dazu ein inspirierendes Analysemodell, David Trobisch gibt eine Einordnung der Methode in Abgrenzung zur Formkritik. Spannend wäre an dieser Stelle ein konkreter Umsetzungsversuch gewesen – denn erst die Praxis entscheidet letzten Endes über die »Haltbarkeit« von Methoden. Obwohl historisch vieles im Dunkeln bleibt und die Untersuchungen (notgedrungen) auf mancherlei Spekulation zurückgreifen müssen, bietet dieser Ansatz doch neue Anregungen für den Umgang mit biblischen Texten – nicht zuletzt in schulischer und kirchlicher Bildungsarbeit.
Ambitioniert ist auch der Versuch, die visuelle Welt der frühen Christen zu rekonstruieren und mit den biblischen Texten in Verbindung zu bringen. David Balch untersucht dazu die auf Wandmalereien antiker Wohnhäuser abgebildeten Szenen aus dem Dionysos-Mythos und vergleicht die daraus abgeleiteten Vorstellungen mit dem korinthischen Enthusiasmus. Der Beitrag Annette Weissenrieders widmet sich der Interpretation des markinischen Feigenbaum-Motivs aus ikonographischer Perspektive, was eine ungeahnte Verbindung nach Rom zum Vorschein bringt. Die Beiträge setzen den Schwerpunkt auf die Etablierung der ikonographischen Zugangsweise als einer Methode, die neue Deutungsperspektiven aufzeigen kann. Die Ergebnisse könnten die Basis für weitergehende Interpretationen liefern, die noch stärker auf die Konsequenzen für das Gesamtverständnis der Texte abzielen.
Im vierten Teil verdient der Aufsatz Pieter J. J. Bothas Aufmerksamkeit. Er unternimmt den Versuch, die »technischen« Bedingungen der antiken Textproduktion ganz konkret unter die Lupe zu nehmen. Im Ergebnis erscheinen rigide Quellenscheidungstheorien und Intentionszuschreibungen an individuelle Redaktoren einmal mehr als Anachronismen: Antike Schriftproduktion ist viel eher als Traditionsfluss zu begreifen, an dem viele Stimmen mitwirkten.
Eine andere Richtung schlägt Robert B. Coote in seinem Aufsatz über das Verhältnis des »Schreibers Markus« zur jüdischen Tradition ein. Vor dem Hintergrund heilsgeschichtlicher Vorstellungen der jüdischen Schriften liest er die markinische Jesuserzählung als ironische Anti-Story, die vor allem die hierarchische »Mainstreamkirche« seiner Zeit und ihre Vorstellung von der baldigen triumphierenden Wiederkehr Jesu (einschließlich der Wiederherstellung des Tempels) kritisiere. Zweifellos ergeben sich hier verblüffende Deutungen, doch entsteht bei der Lektüre die Frage, ob mit den oben geschilderten Konsequenzen der Mündlichkeitsforschung wirklich ernst gemacht wird – gerade was Vorstellungen von Autorschaft und Autorintention anbelangt.
Die Lektüre des Bandes sensibilisiert dafür, die besondere Medialität biblischer Texte verstärkt in den Blick zu nehmen und die in den Texten eingeschriebenen Hinweise auf Mündlichkeit und Bildlichkeit stärker (z. B. für »Textinszenierungen«) zu nutzen. Über den exegetischen Diskurs hinaus liegt hier das Potential für die kirchliche und schulische Arbeit.