Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2012

Spalte:

429–431

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Livesey, Nina E.

Titel/Untertitel:

Circumcision as a Malleable Symbol.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. X, 198 S. 23,2 x 15,5 cm = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 295. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-16-150628-4.

Rezensent:

Klaus Grünwaldt

Die Monographie ist die überarbeitete Fassung einer Ph. D.-Dissertation am Dedman College der Southern Methodist University (Dallas, Texas) aus dem Jahr 2007. In ihr begründet Nina E. Livesey die These, dass antike – und in der Folge auch moderne – Autoren sehr unterschiedliche Dinge meinen und bezeichnen, wenn sie von Beschneidung reden. Die Unterscheidung zwischen eigentlicher und uneigentlicher Rede, also dem physischen Akt und seiner übertragenen Bedeutung, etwa in der Wendung von der »Beschneidung des Herzens«, reicht nicht aus, um die Bedeutungsfülle zu fassen; vielmehr ist auch innerhalb der uneigentlichen Rede ein größeres Bedeutungsspektrum zu konstatieren (vgl. 7 und 106, wo für den Römerbrief neben dem eigentlichen »bodily mark« zwischen Metapher, Allegorie und Metonym unterschieden wird).
Leider beginnt die Arbeit nicht im Alten Testament selbst. Aus deutscher Sicht, wo Dissertationen in der Regel länger als ca. 150 Text-Seiten sind, wäre noch Platz gewesen. Ein Einsatz beim Alten Testament hätte zeigen können, dass die Phänomene, die L. für das antike Judentum und das Neue Testament ausmacht, bereits im Alten Testament begegnen. So beginnt die Untersuchung nach einer Einleitung (1–8), in der die Aufgabe und das Vorgehen be­schrieben werden, mit Ausführungen zur Bedeutung der Beschneidung in den Makkabäerbüchern und dem Jubiläenbuch (Kapitel 1, 9–33), Josephus (Kapitel 2, 34–40) und Philo (Kapitel 3, 41–76).
In diesen ersten Kapiteln zu den antik-jüdischen Schriftstellern wird deutlich, dass es neben der oben beschriebenen formalen hermeneutischen Differenzierung auch um inhaltliche Unterschiede in der Bedeutung der Beschneidung geht. Beschneidung ist Unterscheidungsmerkmal gegenüber Angehörigen anderer Religionen, sie bezeichnet die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft oder näherhin die Treue gegenüber der Herrschaft der Hasmonäer; Be­schneidung lädt angesichts des Schicksals einer Märtyrerin, die getötet wurde, weil sie ihre Kinder beschneiden ließ, ein zu einer frommen Betrachtung über das Leiden, und sie zeigt einen strengen Gesetzesgehorsam an. Darüber hinaus verweist Philo auf die Vorzüge der Beschneidung für die Gesundheit und das Wohlbefinden. In anderen Schriften stellt er aber auch heraus, dass der Ritus den Geist der Beschnitten näher mit Gott verbindet und die jüdische Gemeinschaft stärkt.
Die Aussage des Ritus der Beschneidung hat nach Philo, Josephus und den Makkabäerbüchern auch unterschiedliche Richtungen: Abgesehen von den Wirkungen der Beschneidung für den Beschnittenen zielt sie sowohl auf Gott als auch auf die Gemeinschaft der Juden bzw. – in Abgrenzung – auf die Heiden.
Das zentrale 4. Kapitel (77–122) befasst sich mit der Beschneidung bei Paulus. Es ist nicht systematisch gegliedert, sondern nach den Schriften, in denen die Beschneidung zur Sprache kommt: Galater, Philipper, 1. Korinther- und Römerbrief. Da es für das Verständnis des Redens von Beschneidung bedeutsam ist, geht L. dabei auf die einleitungswissenschaftlichen Gegebenheiten ein, um so herauszustellen, wer die Adressaten des Paulus sind.
Im Galaterbrief überwiegt eine negative Sichtweise auf Be­schneidung: Wer sich beschneiden lässt, verpflichtet sich, das ganze Gesetz zu halten, was angesichts der heidnischen Leserschaft des Gal einer Unterjochung gleichkommt, die im Horizont des nahen Endes mehr als sinnlos ist. Im Philipperbrief interpretiert Paulus die Beschneidung geistlich: »Wir sind die Beschneidung, die Gott im Geiste dienen« (3,3). Daneben gibt es eine falsche Beschneidung, die sich auf das Fleisch verlässt. Ganz kritisch gegenüber der Be­schneidung ist der 1. Korintherbrief, nach dessen Zeugnis in Kapitel 7 die Beschneidung für die Berufenen unnötig ist. Seine Perspektive ist dabei insbesondere die eschatologische. Den breitesten Raum in der Behandlung der paulinischen Belege nimmt die Be­sprechung des Römerbriefes (2,25–29; 4,9–12) ein. Auf die unterschiedlichen Verwendungsweisen ist oben bereits hingewiesen worden. Generalisierend kann gesagt werden, dass Paulus im Röm Beschneidung übertragen als Teilhabe am Bund versteht – bzw. umgekehrt: Wer (durch den Glauben!) am Bund teilhat, gilt als beschnitten.
Die letzten 30 Seiten des Buches geben einen Abriss über die Geschichte der Interpretation der Beschneidung von Justin über Thomas, Luther, Bultmann und Käsemann bis hin zur gegenwärtigen Paulusforschung (New Perspective). Abgekürzt gesagt finden sich hier die Interpretationsmuster, die sich bereits in den antik-jüdischen und neutestamentlichen Zeugnissen gefunden haben, wieder; in der evangelischen Theologie auch die Interpretationen von Paulus und Luther.
Das für deutsche Verhältnisse schmale Buch ist höchst verdienstvoll. Nicht nur werden hier die neutestamentlichen Zeugnisse in einen umfassenden zeitgenössischen Kontext gestellt, sondern es werden auch zentrale hermeneutische Fragen bedacht. Dass die Grundlage, das alttestamentliche Zeugnis, unbearbeitet bleibt, ist – wie gesagt – schade. Es hätte der Studie ein festeres Fundament gegeben. Dies müssen sich die Leserinnen und Leser nun selbst erarbeiten. Ein hilfreiches Frageraster dafür hat L. jedenfalls bereitgestellt.