Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/1996

Spalte:

69 f

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Nowak, Kurt

Titel/Untertitel:

Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts.

Verlag:

München: Beck 1995. 389 S. gr.8o. Lw. DM 58,­. ISBN 3-406-38991-0.

Rezensent:

Hartmut Lehmann

Mit diesem Buch ist Kurt Nowak ein großer Wurf gelungen: Seine Geschichte des Christentums in Deutschland vom Ende des 18. bis zum Ende des 20. Jh.s ist voll von hochinteressanten Informationen und doch zugleich flüssig zu lesen; der Leipziger Kirchenhistoriker hat sein Buch klar in große Abschnitte gegliedert und verliert doch nicht den roten Faden; er diskutiert die Zusammenhänge von Religion, Politik und Gesellschaft kenntnisreich und vergißt darüber doch auch nicht die Entwicklung von Kirche, Theologie und Frömmigkeit. N.s Stärke sind knappe, prägnante Formulierungen; er versteht es, komplizierte Sachverhalte auf präsize Weise zusammenzufassen; er ist kritisch, zugleich aber fair im Urteil; vor allem aber ist er auf allen Seiten seines Buches bemüht, seinen Lesern ein umfassendes Bild zu geben, ein Bild von den Stärken und den Schwächen, von den Leistungen und vom Versagen, kurzum: ein Bild, das alle Leser anregen wird, über die Geschichte des Christentums in Deutschland vom Zeitalter der Aufklärung bis zur Epoche der deutschen Teilung weiter nachzudenken.

N. erörtert mit großer Sorgfalt und Sachkenntnis nicht nur die Geschichte des neueren deutschen Protestantismus, sondern auch die Geschichte des Katholizismus und des Judentums. Einige Punkte fallen hier auf: Durchweg ist er besonders bemüht, dem Katholizismus gerecht zu werden. Das führt dazu, daß er den Weg des Katholizismus in den schwierigen Wechselfällen der deutschen Politik des 19. und des 20. Jh.s weniger kritisch beurteilt als die Wege der verschiedenen protestantischen Gruppen. Liegt das daran, daß er als protestantischer Kirchenhistoriker die Geschichte des Katholizismus weniger gut als die Geschichte seiner eigenen Kirche kennt und im Zweifelsfall eher lobt, als doch zu kritisieren? Oder wurden die politischen Leistungen des Katholizismus bislang überhaupt zu wenig positiv gewürdigt, so daß es N.s Verdienst ist, eine grundlegende Neubewertung vorzutragen? In jedem Falle wäre es interessant, einmal aus katholischer Feder eine ähnlich klare, verständnisvolle Schilderung des neueren deutschen Protestantismus zu lesen. Durchaus kenntnisreich sind auch N.s Darlegungen über die Geschichte der Juden in Deutschland. Dies gilt freilich nur für die Zeit bis 1914. Denn in den dann folgenden Abschnitten geht N. nicht mehr auf die innere Geschichte des deutschen Judentums ein, weder in der Weimarer Zeit, noch in der Zeit der akuten Verfolgung nach 1933, noch nach 1945 und in den beiden deutschen Teilstaaten nach 1949. Hier wird er seinem eigenen Anspruch, auch die Geschichte der dritten Konfession, nämlich des Judentums, in seine Darstellung miteinzubeziehen (Vorwort 11) nicht völlig gerecht. Klare Worte findet N. freilich, um die nur teilweise standfeste Haltung der beiden großen Kirchen zur nationalsozialistischen Politik der Vernichtung der Juden zu charakterisieren.

Aus der Geschichte des neueren Protestantismus berichtet N. ohne Zweifel das Wesentliche. Einige Punkte fallen jedoch auch hier auf: Es scheint, als ob er mit den liberalen Richtungen besser vertraut ist als mit den pietistischen, mit den Entwicklungen im 20. Jh. besser als mit jenen des 19. Jh.s. In den Abschnitten, in denen er die Rolle des Protestantismus in Weimar und im Dritten Reich schildert, ist er, so scheint es, auf bekanntem Terrain: Hier gelingen ihm vorzügliche Formulierungen. Dagegen hat er es nicht in der gleichen Weise verstanden, die große Kraft des neueren Pietismus von der Erweckungsbewegung zur Inneren Mission und bis hin zur Gemeinschaftsbewegung herauszuarbeiten, jenes von einem eher traditionellen Biblizismus getragene Potential an sozialkaritativem Engagement, das sich bei Personen wie Wichern und dem älteren Bodelschwingh mit der Hoffnung auf eine religiöse Wiedergeburt des deutschen Volkes verbinden konnte. Der so wenig erfolgreiche Kanzler Georg Michaelis, der 1917 auf Bethmann Hollweg folgte und dessen Bruder Wilhelm damals den Gnadauer Gemeinschaftsverband leitete, stand noch in dieser Linie. Ebenso wäre es sicher notwendig gewesen, stärker auf die besonderen Stärken und Schwächen des Engagements der deutschen Protestanten in der Äußeren Mission einzugehen.

Nur indem ich zunächst noch einmal an die große Leistung N.s erinnere, seien drei Punkte erwähnt, in denen mich seine Darstellung nicht ganz überzeugen kann. Der eine betrifft die Religiosität der einfachen Leute. Zwar bringt N. einen originellen, wichtigen Abschnitt über die "Frömmigkeitswelten im Biedermeier und Vormärz". In seinem Buch erfahren wir aber insgesamt zu wenig über die Glaubenswelt der Gruppen, die nicht den Kirchenhierarchien angehörten. Zu viel ist, so scheint mir, von "großer Politik" die Rede; freilich ist von diesem Gebiet auch besonders viel zu berichten. Der andere Punkt betrifft den kurzen Abschnitt über "Zivilreligion" in N.s Kapitel über Christentum und Diktatur im Dritten Reich (266 ff.). Der von Robert N. Bellah vor drei Jahrzehnten geprägte Begriff "Zivilreligion" ist ganz auf die neuere amerikanische Geschichte bezogen und ist, so scheint mir, nicht geeignet, um Zusammenhänge zwischen Staat und Religion unter den Bedingungen einer Diktatur zu erhellen. Im übrigen wird dieser Begriff auch in den USA inzwischen stark kritisiert. Selbst Bellah ist von ihm wieder abgerückt. Schließlich sei es mir als einem Süddeutschen verziehen, wenn mir auffällt, daß N. die Geschichte des Protestantismus in Süddeutschland etwas stiefmütterlich behandelt, während er zahlreiche Episoden aus dem nord-, ost- und westdeutschen Protestantismus schildert.

Besonders zu erwähnen ist der Anhang mit außerordentlich reichen Literaturangaben und zahlreichen Anmerkungen, in denen oft Entlegenes, wenig Bekanntes festgehalten wird. Dieser Teil des Buches ist ein beredtes Zeugnis für Nowaks große Belesenheit und erklärt, warum es ihm gelungen ist, auf vergleichsweise knappem Raum eine Geschichte zu schreiben, die durch die Fülle der Informationen ebenso beeindruckt wie durch die Klarheit des Urteils. N.s Buch ist eine große Verbreitung zu wünschen. Fachleute werden dieses Werk ebenso mit großem Gewinn lesen wie historisch interessierte Laien.