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Ausgabe:

April/2012

Spalte:

423–425

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Allison Jr., Dale C.

Titel/Untertitel:

Constructing Jesus. Memory, Imagination, and History.

Verlag:

Grand Rapids: Baker Academic 2010. XXIX, 588 S. 22,7 x 15,0 cm. Lw. US$ 54,99. ISBN 978-0-8010-3585-2.

Rezensent:

Ulrich Luz

Wenn Dale C. Allison, der Verfasser des profunden dreibändigen Matthäuskommentars in der Reihe »International Critical Commentary« und mehrerer wichtiger Monographien, darunter eines Jesusbüchleins mit dem Titel »Jesus of Nazareth. Millenarian Prophet« (Minneapolis 1998), zur Feder greift und ein großes Jesusbuch veröffentlicht, darf man viel erwarten. In der Tat liegt hier ein fulminantes Jesusbuch vor, das zwar nicht in der Grundthese, wohl aber in seinem Materialreichtum und in seinen methodischen Ansätzen über das frühere Buch weit hinausführt.
Das zeigt sich besonders in seinem Eingangskapitel »The Ge­ner­al and the Particular. Memories of Jesus« (1–30). Ein kurzer Überblick über die Erinnerungsforschung der letzten Jahrzehnte bringt A. zur Einsicht, dass unsere Erinnerungen mit zunehmender Dis­tanz »are disposed to retain, if anything, only the substance or ›gist‹ of an event«, d. h. nicht »the words and syntax of a sentence« …, sondern nur »its general substance or meaning« (11). Das führt A. zu einer radikalen Abwertung der bisherigen, überwiegend auf einzelne Überlieferungen bezogenen Echtheitskriterien der Jesusforschung. Man könne nicht die Überlieferung durch eine Subtraktion von möglicherweise nicht authentischen Jesusüberlieferungen auf einen harten Kern von authentischen Parabeln und Logien reduzieren. Im Gegenteil: »Certain themes, motifs, and rhetorical strategies recur again and again through the primary sources; and it must be in those themes and motifs and rhetorical strategies … if it is anywhere, that we find memory« (15). Konkret und in traditioneller Terminologie gesprochen läuft dies auf eine entschiedene Bevorzugung der schon längst bekannten Kriterien der Kohärenz und der Mehrfachbezeugung hinaus.
Ein nächstes, sehr langes Kapitel ist überschrieben mit »More than a Sage« und handelt von Jesu Eschatologie (31–220). Es entfaltet A.s aus seinem früheren Jesusbuch in den Grundlinien schon bekannte These: Jesus ist, wie dies Johannes Weiss und Albert Schweitzer längstens wussten, ein millenaristischer, apokalyptischer Prophet. Er vertritt eine apokalyptische »Jewish restoration eschatology« (157), in der das Gewicht nicht auf der Furcht vor dem nahen Weltende, sondern positiv auf der Hoffnung auf Gottes Zukunft liegt. Seine Verkündigung steht nicht im Gegensatz zur apokalyptischen Johannes des Täufers und nicht im Gegensatz zu einer – dann eigenartigerweise erst nachträglich wieder eingetretenen – Reapokalyptisierung in den frühen Gemeinden, sondern in Kontinuität zur apokalyptisch geprägten Verkündigung des Johannes und zur apokalyptisch geprägten Verkündigung der frühen Gemeinden. Exemplarisch zeigt sich das daran, dass die frühen Gemeinden nicht Jesu Entrückung oder Erhöhung in den Himmel verkündeten, wie dies in allen vergleichbaren Fällen der jüdischen Religionsgeschichte zu beobachten ist (56–58), sondern seine Auferstehung. Die Rede von der Auferstehung Jesu ist aber nur im Zu­sammenhang mit der apokalyptischen (pharisäischen) Hoffnung auf eine endzeitliche Totenauferstehung zu verstehen. Im Zentrum der Verkündigung Jesu steht das kommende Reich Gottes; die Worte vom (schon) gegenwärtigen Reich Gottes sind am leichtes­ten auf dem Hintergrund der vielfach zu belegenden jüdischen Überzeugung zu verstehen, dass die Äonenwende nicht ein in einem einzigen Moment geschehender Vorgang ist, sondern ein sich über einen gewissen Zeitraum erstreckender Prozess (98–116).
Das folgende Kapitel trägt den Titel »More than a Prophet« und handelt von Jesu »Christologie« (221–304). A.s Grundüberzeugung, die er in schroffer Polemik gegen seine Intimfeinde Robert Funk und Marcus Borg vertritt, lautet: Jesus muss eine ganz hohe Meinung über seine eigene Rolle gehabt haben. Er sah sich als »the center of his own eschatological scenario« (303). Sonst würde die ganze sehr umfangreiche und vielfältige Überlieferung nicht verständlich. Aber wie sah er sich? Da Jesus erstaunlicherweise zwar vom Königreich Gottes, aber kaum von Gott als König spricht, ist zu vermuten, dass er seine eigene Rolle in irgendeiner Form als »königliche« ansah. »The Romans probably crucified Jesus as ›king of the Jews‹ because he did not distance himself from that derisive epithet« (240). Anders ist nach A. kaum verstehbar, warum Jesus nach dem Glauben der frühen Christen nicht nur auferstanden, sondern zugleich zur Rechten Gottes inthronisiert worden ist. Auf mehr Zustimmung als diese für mich überraschende These wird A.s Vermutung stoßen, dass Jesus sich als messianischen Boten (nach Jes 61,1–3) und als eschatologischen Propheten, der Moses überbietet (Dtn 18,15–18), sah. Skeptischer beurteilt A. den Vorschlag, Jesus habe sich als Elia redivivus gesehen; auch die Frage, ob Jesus sich als Davidide gesehen habe, sei sehr schwer zu beurteilen. Zur Menschensohnfrage äußert er sich nur kurz. Vielleicht – aber nur vielleicht – hat Jesus im Menschensohn »his celestial twin, his heavenly alter ego or true self« (303) gesehen, wie es religionsgeschichtlich immer wieder zu belegen ist.
Das vierte Kapitel (»More than an Aphorist«; 305–386) hat mich eher enttäuscht. Eigentlich hätte A. in diesem Kapitel zeigen müssen, wie er die Logien und die – größtenteils nicht vom Gottesreich sprechenden – Gleichnisse Jesu mit seiner Konstruktion des apokalyptischen und millenaristischen Propheten Jesus verbindet. Doch dieses Problem – das Grundproblem schon von Johannes Weiss, von Bultmanns Jesusbuch und nach ihm so vieler Jesusbücher – wird gar nicht angepackt. Stattdessen versucht A. anhand von Q = Lk 6,27–42 zu zeigen, dass dieser Text – und vermutlich auch andere Texte – nicht einfach auf einzelne Aphorismen zurückgeht, sondern an einen ursprünglichen Zusammenhang erinnert, in dem Logien mit ähnlichen Themen und einem fast durchgehenden Bezug auf Lev 19 als Intertext zusammengestellt wurden, als eine Art »stock sermon« (380). Jesus mag eine solche Reihe von Sentenzen mehrfach formuliert haben. Gewiss eine interessante These – aber nicht eine grundlegende zum »weisheitlichen Jesus«, die vielleicht nicht nur Robert Funk oder Marcus Borg von A., dem Erneuerer des Jesusbildes der religionsgeschichtlichen Schule, erhofft hätten.
Das fünfte Kapitel über die Passionsgeschichte (387–433) vertritt zwei Thesen: Die erste ist die, dass bereits Paulus die Geschichte der Passion Jesu in einer Form gekannt haben muss, die der späteren markinischen Passionsgeschichte nicht unähnlich ist. Die zweite ist die, dass Jesus nicht »blind« in seinen Tod gegangen sein kann, sondern – nach der in ganz vielen Texten niedergelegten Erinnerung der urchristlichen Zeugen – sehr bewusst in seinen Tod ge­gangen sein und diesem auch einen Sinn gegeben haben muss.
Ich stimme hier – wie bei den meisten anderen Hauptthesen des Buches – gerne zu. Nur wüsste man gerne etwas mehr: Welchen Sinn könnte Jesus seinem Tod gegeben haben? Hier zeigt es sich, dass es nicht reicht, lange Listen von in dieselbe Richtung weisenden frühchristlichen Zeugnissen zusammenzustellen, wie dies A. beispielsweise auf den Seiten 33–43.79–82.228–230.428–432 tut. Ge­wiss können die von A. – aus Resignation über die von der amerikanischen Jesusforschung (und nicht nur ihr) vertretenen sehr unterschiedlichen Jesuskonstruktionen – über Bord geworfenen »Kriterien« für die Authentizität einzelner Logien oder Episoden nicht mehr als dies zeigen, dass sie »possibly authentic« (22) sein könnten. Aber immerhin dies! Das sollte man nicht verachten. Sonst gerät eine Jesuskonstruktion zum relativ groben Holzschnitt, in dem feinere Pinselstriche fehlen. Das droht bei A. manchmal – aber nicht durchweg. Gewiss sind die feineren Pinselstriche, die eine sinnvolle Kombination der verschiedenen Kriterien ermöglicht, subsidiär und hypothetisch und müssen sich den großen Linien des Holzschnittes einfügen. Aber sie können doch wichtig sein. Dass mehrere Tausend Neutestamentler auf der ganzen Welt in ihren Jesuskonstruktionen zu einem Konsens finden, das ist angesichts ihrer sehr unterschiedlichen Kontexte, Interessen, Kenntnisse, Methoden und Vorlieben nicht zu erwarten. Aber mit dem von A. konstruierten Holzschnitt werden doch sehr viele von ihnen in Grundzügen einverstanden sein.
A.s Buch ist nicht nur ein dickes, sondern auch ein großes Jesusbuch, das man mit Gewinn liest. Besonders faszinierend sind die unendlich vielen religionsgeschichtlichen Hinweise auf – im weitesten Sinn des Wortes – »apokalyptische« Propheten in aller Welt, deren Verkündigung und Wirken in manchem interessante Parallelen zu Jesus aufweisen – vom Lehrer der Gerechtigkeit bis zu William Miller, von Zarathustra über Jan Bokelson und Sabatai Zwi bis zu Simon Kimbangu und Menachem Schneerson. Solche Hinweise (z. B. 253–263) gehören zu den vielen Perlen, die man in diesem Buch findet, zu den reichen Schätzen dessen, was man selber noch nicht weiß, aber von A. lernen kann.
Eine Perle ist auch das kurze Schlusskapitel des Buches: »Memory and Invention: How Much History?« (435–463). Angestoßen durch Behauptungen von Marcus Borg und Dominic Crossan, viele evangelische Erzählungen seien bloße Metaphern oder Parabeln, reflektiert A. die Frage: »Did the Evangelists believe their own stories?« und trägt wichtiges Material zum Wirklichkeits- und Fiktionsverständnis von griechischen Historikern, jüdischen Rabbinen und Midraschisten, Kirchenvätern und von neutestamentlichen Autoren zusammen. Eine einlinige, einfache Antwort gibt er nicht.