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Ausgabe:

April/2012

Spalte:

412–414

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Rau, Susanne, u. Gerd Schwerhoff [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Topographien des Sakralen. Religion und Raumordnung in der Vormoderne.

Verlag:

München/Hamburg: Dölling und Galitz 2008. 432 S. m. zahlr. Abb. u. 16 Taf. m. Abb. 26,8 x 21,0 cm. Kart. EUR 49,80. ISBN 978-3-937904-74-0.

Rezensent:

Hubertus Lutterbach

Der Sammelband konzentriert seine international und interdisziplinär ansetzende Suche nach einer näheren Bestimmung des Heiligen auf heilige Orte und heilige Landschaften: »Die Beiträge des vorliegenden Bandes wollen das Verhältnis von religiöser Kultur und Raum in historischen Perspektiven beleuchten«, wie es im »Editorial« heißt (7). Im Hintergrund dieser auf Hochglanzpapier gedruckten und beinahe im Stil eines Kunstbandes kostbar gestalteten Publikation steht eine 2006 in Dresden abgehaltene Tagung (»Social Space and Religious Culture. 1300–1800«), die der Konstitution, der Wahrnehmung und der Nutzung von religiösen Räumen in diachronen Perspektiven nachging. Obwohl keine Theologen an der Tagung beteiligt waren, ist das wissenschaftliche Ergebnis für diese geisteswissenschaftliche Disziplin hochkarätig.
Der Band ist in sechs Hauptkapitel untergliedert, denen die einzelnen Beiträge zugeordnet werden: Hauptkapitel 1 (»Einleitung«) bietet zwei grundlegende Aufsätze: Susanne Rau, Raum und Religion. Eine Forschungsskizze; Gerd Schwerhoff, Sakralitätsmanagement. Zur Analyse religiöser Räume im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Es folgen Hauptkapitel 2: »Konstruktion und Wahrnehmung religiöser Räume«, Hauptkapitel 3: »Raumordnungen und Raumnutzungen in Islam, Judentum und Christentum«, Hauptkapitel 4: »Überlagerungen – Simultannutzungen – Neutralisierungen von Räumen« und Hauptkapitel 5: »Sakrale Topographien und räumliche Netzwerke«. Den Abschluss bildet 6. ein »Ausblick« mit dem Beitrag von Hans-Georg Lippert, Aneignung des Raumes. Der Kölner Dom im 19. und 20. Jahrhundert.
Unter den zahlreichen Beiträgen geben Susanne Rau und Gerd Schwerhoff den Ton vor: Susanne Rau zeichnet in ihrem Beitrag die historisch vielfältige Nutzung von Kirchenräumen nach. Aus diesem (Forschungs-)Überblick leitet sie als Desiderat die Frage ab, worin sich Katholiken, Protestanten und Calvinisten, darüber hinaus Menschen islamischen und jüdischen Glaubens mit Blick auf die Konstitution heiliger Räume eigentlich unterschieden. Um der Be­antwortung dieser Fragen willen regt sie eine räumliche Definition von Religion an, die die Heiligkeit des Ortes im Sinne einer Re­zeptionsgeschichte »auf Zuschreibung, Wahrnehmung oder Anerkennung zurückführt« (17). Auch Gerd Schwerhoff widmet sich der Sakralitätsproduktion, wenn er die »Leitdifferenz ›sakral‹/›profan‹« als »zentraler Generator einer religiösen Raum-Orientierung« ak­zentuiert, um zugleich vor einem Verständnis der beiden Termini im Sinne von »Oppositionsbegriffen« zu warnen. Stattdessen lenkt er die wissenschaftliche Aufmerksamkeit unter dem von ihm in die Diskussion eingebrachten Kennwort »Sakralitätsmanagement« auf die Unterschiedlichkeit räumlicher Sakralitätskonzepte und deren »Umcodierung« (48). Für untersuchenswert hält er im Rahmen der Konstituierung von Räumen nicht zuletzt kompromisshafte Umgehensweisen mit ›Heiligkeit‹ und ›Weltlichkeit‹, die die Balance zwischen beiden Polen zu halten versuchen (41).
Die Tragweite der angesprochenen Konzeptionen überprüfen die weiteren Beiträge des Sammelbandes im Sinne von ›Case Studies‹: Unter der Überschrift von Hauptkapitel 2 erläutert Jacques Rossiaud am Beispiel der Stadt Lyon eindrucksvoll, wie diese von Sakralität geprägte Stadtlandschaft zwischen altkirchlicher Zeit und dem 18. Jh. von permanenten Umgestaltungen und veränderten Zuschreibungen betroffen war. En detail macht er plausibel, dass diese Variationen zum einen die epochalen Umbrüche in der jeweils dominanten Frömmigkeit widerspiegeln und zum anderen als Reaktionen der jeweils sozialpolitisch maßgeblichen Kräfte zu verstehen sind. Susan C. Karant-Nunn untersucht fünf ›Orte‹ (Altar, Kruzifix, Kirchenstühle, Taufstein und Beichtstuhl) im Spannungsfeld von ›sakral‹ und ›profan‹ während der Reformation. Ihre Ergebnisse verdienen Beachtung und Vertiefung, wie folgende Aussage exemplarisch unterstreichen kann: »Nicht die Priesterschaft aller Christen, sondern die Ränge der irdischen Gesellschaft wurden im lutherischen Sakralraum dargestellt. … Die Semiotik des Kirchenraumes bestätigt den Neoklerikalismus des reifen Reformationszeitalters.« (98) Vera Isaiasz macht deutlich, dass die oft kaum veränderte Übernahme mittelalterlicher Kirchenräume durch Lutheraner nicht einfach als Ausdruck einer bewahrenden Kraft des Luthertums zu verstehen ist, sondern sich erst in Abgrenzung vom konkurrierenden Sakralitätsverständnis der Calvinisten – genauer: »in Abgrenzung zum calvinistischen Raumkonzept« – erschließt und zum »Kennzeichen luthe­-rischer Konfessionskultur« entwickelte (113). Angelo Torre erläutert den Prozess der Raumgenese anhand eines für das Ancien Régime typischen Falles: Erst die wundersam blutende Hostie im Kapellenraum einer karitativen Stiftung im Herzogtum Savoyen führte dazu, dass dieser Raum fortan juristisch anders gesehen sowie aus der profanen Topographie und aus der weltlichen Gerichtsbarkeit ausgesondert wurde (149).
Aus den ›Case Studies‹, die im Hauptkapitel 3 den Blick von den Wahrnehmungen des Raumes auf die »Raumordnungen und Raumnutzungen« lenken, seien zwei Beiträge hervorgehoben, die sich zeitlich auf den Übergang zwischen Spätmittelalter und Frühneuzeit in Europa beziehen: Karsten Igel fragt, warum spätmittelalterliche Sakralräume für die Verübung von Gewaltakten bewusst ausgewählt und inszeniert wurden: Die Gestühle von Klerikern und Ratsmitgliedern in den zentralen Kirchenräumen einer Stadt standen zugleich für die besonderen Rechte dieser Gruppen, so dass es sich nahelegte, dass die entsprechenden Gruppierungen eben dort ihre Konflikte austrugen (212–213). Robert J. Christman stellt die in der Forschung verbreitete Ansicht infrage, dass die lutherischen Eliten im Unterschied zur ›Basis‹ in Theorie und Praxis »einen klaren Bruch mit dem mittelalterlichen Verständnis von Kirchen- und Friedhofsraum vollzogen« hätten. Stattdessen argumentiert er anhand von drei zwischen 1570 und 1620 angesiedelten Fallstudien, dass »der Raum der Kirche und des Friedhofs auch im Luthertum ein überdurchschnittliches Potential beibehielt, auf Menschen und Dinge in seiner Nähe einzuwirken« (237).
Aus den »Überlagerungen, Simultannutzungen und Neutralisierungen von Räumen« (Hauptkapitel 4) seien zwei auf den neuzeitlichen Westen bezogene Beiträge herausgestellt: Daniela Hacke zeigt am Beispiel der »Kommunikation über Räume«, wie schwer im 17. Jh. eine »religiöse Koexistenz in eidgenössischen Dorfkirchen der Frühen Neuzeit« zu erzielen war; denn es wurde »in der politischen Kommunikation [durch die jeweils beteiligten Konfliktparteien] ein Rechtsanspruch auf Teilhabe am Kirchenraum und an seiner materiellen und religiösen Kultur artikuliert« (295). Wolfgang Kaiser erschließt die Insel Lampedusa im Mittelmeer als Ort, der von Muslimen und Christen gleichermaßen friedlich aufgesucht wurde, obwohl sich die Anhänger dieser Religionen ansonsten oft feindselig gegenübertraten: Der vor Ort ansässige Eremit gab sich – je nach dem, wer seine Insel besuchte – wahlweise als Muslim oder Christ aus. So handelt es sich bei Lampedusa »um einen ›Doppelort‹ simultaner, aber getrennter Kulthandlungen« (326). Die Praktiken des Einsiedlers »schufen keinen neutralen Ort, sondern besetzten mit einem beiderseitig akzeptierten ›als ob‹ einen Raum mit ihren jeweiligen Sinngebungen und bezeichneten diesen Moment des Innehaltens« (327).
Als Beispiel für »Sakrale Topographien und räumliche Netzwerke« (Hauptkapitel 5) erläutert unter anderem Stephanie Rüther auf der Basis von Testamenten die Konstruktion einer sakralen Topographie Lübecks im 15. und 16. Jh. Zuvor ›tote‹ Orte der Stadt (Buden, Häuser, Klostergebäude, Kirchenräume) wurden durch die jeweiligen Testamentsbestimmungen »aus der bisherigen Ordnung herausgehoben und in religiöse Orte verwandelt« (341). Perspektivreich arbeitet Rüther weiter heraus, dass sich durch die Reformation die Ordnung der religiösen Räume veränderte, indem beispielsweise die Kirchengebäude in der Wertschätzung der Menschen hinter die Räume für die Kranken- und Armensorge zurückfielen. Patricia Subirade widmet sich der Freigrafschaft Burgund zwischen dem 17. und 18. Jh., um detailliert zu untersuchen, wie religiöse Identität auf regionale Identität einwirkte oder dafür sogar instrumentalisiert wurde (383). Abschließend analysiert Hans-Georg Lippert mithilfe historischer Rückblenden, wie es dazu kommen konnte und was es für die Frage nach heiligen Räumen bedeutet, dass der Kölner Dom als Deutschlands bekanntestes Bauwerk zugleich dem Tourismus, der Wallfahrt, dem Erzbischof und dem Domkapitel, der Dompfarrei sowie den vielen Sonderveranstaltungen zur Nutzung offensteht (400).
Im Ergebnis erläutert diese forschungsgeschichtlich inspirierende, wissenschaftlich gründliche, historisch materialgesättigte, thematisch facettenreiche und theologisch relevante Publikation tatsächlich einige mögliche Ausprägungen dessen, was Gerd Schwerhoff einleitend als »Sakralitätsmanagement« benennt. Auf je andere Weise, mit Blick auf jeweils verschiedene Epochen sowie für teils unterschiedliche Kulturkreise unterstreichen die Autorinnen und Autoren der Beiträge, wie wichtig es ist, zwischen einem Raum als solchem und seiner Wahrnehmung zu unterscheiden. Für die Deutung von Räumen erläutern sie an zahlreichen Beispielen, was »eine Verschiebung der Koordinaten des Sakralen in der Welt bzw. in die Welt« bedeuten kann (48). Gründlich veranschaulichen die vorgelegten Einzelstudien das Gesamtthema der Publikation: »Die Frage nach der Grenzziehung zwischen ›sakral‹ und ›profan‹ im Sinne von unterschiedlichen Sakralitätskonzepten bzw. eines spezifischen Sakrali­tätsmanagements eröffnet Möglichkeiten auch zur vergleichenden Analyse von religiösen Räumen in anderen Kulturen.« (49) Die Leis­tung der Herausgeber ist kaum zu überschätzen; denn es ist ihnen gelungen, Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen und Nationen auf die Frage nach einem ortsbezogenen »Sakralitätsmanagement« in verschiedenen Epochen und Kulturkreisen so zu verpflichten, dass die kulturgeschichtlich und/oder theologisch interessierte Leserschaft daraus reiche Anregungen ziehen kann. Tatsächlich bedeuten die vorgelegten Ergebnisse eine Perspektivweitung, deren Rezeption nicht zuletzt der historisch-theologischen wie der systematisch-theologischen Forschung gleichermaßen Gewinn verspricht.