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Ausgabe:

April/2012

Spalte:

410–412

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Leuzinger-Bohleber, Marianne, u. Paul-Gerhard Klumbies[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion und Fanatismus. Psychoanalytische und theo­logische Zugänge.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010. 340 S. m. 2 Abb. u. 1 Tab. 20,5 x 12,3 cm = Schriften des Sigmund-Freud-Instituts. Reihe 2: Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog, 11. Kart. EUR 37,95. ISBN 978-3-525-45184-7.

Rezensent:

Isabelle Noth

Psychoanalyse und Theologie standen bisher nicht sonderlich im Ruf, einen fruchtbaren wissenschaftlichen Austausch miteinander zu pflegen. Zu tief schien der Graben zwischen beiden zu sein, den Freud mit seiner Religionskritik, aber vielleicht noch mehr mit seiner vermeintlichen Missachtung von Ethik und Moral bzw. mit seiner Sexualtheorie ausgehoben hatte. Umso erstaunlicher ist es, wenn sich die beiden Disziplinen in der Bearbeitung eines Themas zusammenschließen. Auslöser dieser Zusammenarbeit sind im vorliegenden Fall die Anschläge auf die Twin Towers in Manhattan vom 11. September 2001, und ihr Inhalt ist das Verhältnis von Religion und Fundamentalismus.
Der dreiteilige Sammelband setzt ein mit »psychoanalytischen Perspektiven« (25–130), die aus drei Hauptreferaten und drei Repliken bzw. Diskussionen bestehen, fährt fort mit theoretischen Konzepten und klinischen Erfahrungen im »Umgang mit Fundamentalismus, Gewalt und dem Fremden« (131–258) und schließt mit fünf theologischen Beiträgen zu »Religion und Gewalt im Chris­tentum« (259–338).
Vor dem Hintergrund des bisher dominierenden gesellschaftlich-politischen Trends zur undifferenzierten Verteufelung entschiedener (vor allem muslimischer) Gläubiger und zur a priori Kriminalisierung von Fundamentalismen hebt sich die Mehrheit der Beiträge ab durch das Bemühen um eine sachliche Analyse der komplexen Ursachen, die zu Formen fanatisierter Religion und schließlich Gewalt führen. Dabei fällt gleich zu Beginn die Spannweite unterschiedlicher Verständnisse von Fundamentalismus auf, deren gemeinsamer Nenner darin zu liegen scheint, ihn in eine Verbindung mit der Bewältigung gesellschaftlicher Krisensituationen zu bringen. Während nun die einen mehr den pathologischen Aspekt betonen – »Fundamentalismus ist ein Krisenanzeichen, mehr ein Krankheitssymptom denn ein krimineller Akt« (78) –, sehen andere im Zuge eines mehr sozialpsychologischen Zugangs in fundamentalistischen Gruppierungen auch progressiv-poli­tische Kräfte zur Überwindung von Ungerechtigkeit am Werk.
Was die Beiträge von psychoanalytischer Seite auszeichnet, ist ihr Augenmerk auf den Stellenwert unbewusster Fantasien im Zu­sammenhang mit – nicht nur religiösen – Fundamentalismen, wo­bei eine Palette unterschiedlicher Konzeptualisierungen wie z. B. die der ubiquitären unbewussten Fantasien von Bendkower (1991), also der einzelne Individuen überschreitenden, allgemeinmenschlichen Fantasien, verwendet wird. Immer wieder wird auf die psychischen Mechanismen der Abspaltung und Projizierung re­kurriert, die andere Mitmenschen zu Ungläubigen und damit zu Feinden machen, die brutal bekämpft werden müssen. Die innerpsychoanalytische Diskussion bewegt sich dabei zwischen den beiden Polen einer rein psychologischen und zuweilen erstaunlich apolitischen Erklärung von Fundamentalismus und Gewalt und einer Sichtweise, die sich dezidiert von jeglichem Reduktionismus absetzt und die Berücksichtigung multifaktorieller Ursachen bei der Befassung mit dem Thema einfordert. Am deutlichsten dürfte Letzteres nach 9/11 der in London praktizierende Psychoanalytiker M. Fakhry Davids zum Ausdruck bringen, der im Anschluss an George Awad auf den nicht zu vernachlässigenden »Kontext der großen Demütigung und des Verrates an den Völkern des Nahen Ostens durch den dominierenden Westen« (107) verweist.
Wie hilfreich und auch nötig in diesem Zusammenhang die interdisziplinäre Zusammenarbeit ist, zeigt sich deutlich an dem in den psychoanalytischen Beiträgen beinahe redundant postulierten inhärenten Zusammenhang zwischen Fundamentalismus und Apokalyptik. So klärt der theologische Mitherausgeber des Buches, Paul-Gerhard Klumbies, in Kurzform äußerst präzis über Entstehung und Entwicklung apokalyptischen Denkens und seines Einflusses auf das Christentum auf und korrigiert die verbreitete Fehlannahme von Apokalyptik als eines »inhaltlichen Essentials« christlicher Religion. Bedauerlicherweise handelt es sich hier um das einzige Beispiel eines direkten wissenschaftlichen Austauschs zwischen psychoanalytischer und theologischer Seite in diesem Buch. Die Beiträge sind sonst feinsäuberlich voneinander getrennt und beziehen sich auch inhaltlich nicht aufeinander, was umso mehr eine vertane Chance bedeutet, als verschiedenste Beiträge wohl das Potential hätten, in der jeweils anderen Disziplin Diskussionen zu provozieren.
Vor dem Hintergrund des 11. Septembers 2001 und der auf­-fallenden Beteiligung junger Männer an fundamentalistischen Grup­pierungen dürfte z. B. der Aufsatz von Mario Erdheim über »ethnopsychoanalytische Perspektiven auf adoleszente Gewalt und Religion« insbesondere auch für die Praktische Theologie zu den anregendsten Beiträgen des Bandes gehören. Dem starken Druck von Omnipotenz- und Größenfantasien ausgesetzt, suchen Adoleszente Grenzüberschreitendes auch im Bereich von Religion. Gerade mit ihr verbinde Adoleszente »eine innige Wahlverwandtschaft«, die jedoch Gewalt mit einschließen könne.
Aufgrund der in der Adoleszenz so heftig hervorbrechenden Größen- und Allmachtsfantasien, aber auch aufgrund der triebhaften Entwicklung und des Generationenkonflikts, die insgesamt zu neuen Erfahrungen nötigen, plädiert Erdheim dafür, diese Lebensphase als zweite Chance zu verstehen: Frühere Erfahrungen werden neu interpretiert, Verpasstes wird nachgeholt, der Determinismus der frühen Kindheit revidiert. Nach Erdheim besteht »eine wesentliche Strategie« von Adoleszenten gerade darin, Vergangenes zu reinszenieren, um es zu revidieren und zu verarbeiten. Diese Strategie, auf die auch das Konzept der Nachträglichkeit aufbaut, gelte es zu unterstützen und zu nutzen, statt es zu verhindern. Ob es dabei zu einer Fixierung von früher Erlebtem und Erlittenem oder zur Revidierung und Aufarbeitung komme, hänge wesentlich von der Risikobereitschaft der Gesellschaft bzw. von der Bändigung unser aller »Angst vor der Wiederholung« ab.
So anregend diese Gedanken sind, so sehr wünschte man sich hier weitere Ausführungen. Nach Erdheim ist die entwicklungspsychologische Aufgabe, Allmachts- und Größenfantasien in Einklang und Ausgleich mit der Realität zu bringen, vornehmlich durch Arbeit zu lösen. Es stellt sich hier die Frage, inwiefern religiöse Bildung auch zu Arbeit gezählt werden kann. Denn aus theologischer Sicht ließe sich anmerken, dass es als eine religionspädagogische Grundaufgabe bezeichnet werden könnte, Adoleszente darin zu begleiten, ihre Allmachts- und Größenfantasien nicht nur der sog. Realität anzupassen, sondern auch umgekehrt die Kraft dieser Fantasien zu nutzen, um die reale Welt auf mehr Gerechtigkeit hin zu verändern, d. h. die Realität auch den Fantasien anzupassen. Metaphern wie jene der Gottebenbildlichkeit nähren die Fantasien Adoleszenter und billigen ihnen eine Größe und Bedeutung besonderen Ausmaßes zu, die jedoch der sorgfältigen theologischen Interpretation und religiösen Aufklärung bedürfen.
Zum Schluss sei nicht verschwiegen, dass es auch diesem Band nicht vollends gelungen ist, religionspolitisch störende Äußerungen zu vermeiden – so z. B. Verallgemeinerungen wie: »In den Augen der Muslime besteht die Menschheit aus Kollektiven« (43) und Einseitigkeiten wie z. B. der Hinweis darauf, dass »in der arabischen Welt« Verschwörungstheorien hinsichtlich des Westens »weit verbreitet« seien. Umso mehr schätzt man bei der Replik des norwegischen Psychoanalytikers Sverre Varvin die Frage, ob denn »islamische Bewegungen … nicht auch als eine progressive Kraft gesehen werden (können)?« (52), und den Hinweis darauf, dass »reale Ungerechtigkeit und Ungleichheit« (53) nicht übergangen werden dürften, denn: »Können wir auf Besserung hoffen, solange es soziale und politische Prozesse gibt, die narzisstische Wunden be­wirken?« (55) Dieser Sammelband leistet mit seiner Vielzahl unterschiedlicher Zugänge und Aspekte zweifellos einen Beitrag zu einem gemeinsamen tieferen Verständnis dafür, wie solche Wunden entstehen, und auch dazu, wie sie verhindert werden können.