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Ausgabe:

April/2012

Spalte:

405–408

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Kühnlein, Michael [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kommunitarismus und Religion.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 2010. 396 S. 24,0 x 17,0 cm = Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderbd. 25. Geb. EUR 59,80. ISBN 978-3-05-004687-7.

Rezensent:

Christian Polke

Zu den klassischen Themen der Religionssoziologie gehört seit ih­rem Entstehen die Frage, welchen Einfluss religiöse Vorstellungen und Praktiken auf das gesellschaftliche Zusammenleben haben, wie sich Religionsgemeinschaften zur jeweiligen sozialen und politischen Ordnung verhalten und wie sich diese Zusam­menhänge im Lichte der Gegenwartsprobleme und der Zukunftsfähigkeit von Gesellschaften bewerten lassen. Insofern ist die von Max Weber postulierte Werturteilsfreiheit allenfalls für die Zwi­schenschritte der Analyse einsetzbar. Denn – wie Webers Werk selbst in großem Umfang belegt – makrosoziologische Untersuchungen entkommen der normativen Bewertung der Fakten, Interessen und Ideen nicht.
Von dieser Warte aus blickt man einigermaßen irritiert auf manche Facetten der mittlerweile in die Jahre gekommenen Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte. Das »normative Leitideal des Westens, der politische Liberalismus, ist in eine Krise geraten«, so deutet es der Umschlagtext des hier anzuzeigenden Sammelbandes zu Recht an. Freilich liegt das vornehmlich daran, dass der politische Liberalismus in Reinform stets eher eine Sache der sich philosophisch versiert gebenden Politiker und Intellektuellen war als eine mehrheitsfähige Überzeugung der Bevölkerung. Polemisch gesprochen: Es war die sich sanft gebende Ideologie der sog. faculty clubs in Parlamenten und Universitäten, mehr eben aber auch nicht. Dennoch gereichte dies in den Debatten zumeist den kommunitaristischen Stimmen zum Nachteil. Über diese informiert nun ein trefflicher Sammelband, der von Michael Kühnlein, dem wir darüber hinaus eine interessante Studie über Charles Taylor verdanken, herausgegeben wurde.
Thematisch ist das Buch in fünf Themenblöcke gegliedert: Der erste verhandelt den Komplex von »Kommunitarismus, Liberalismus und Religion« (15–101) mit Beiträgen von Jean-Pierre Wils, Michael Haus, Jürgen Goldstein, Franz-Josef Bormann und Hartmut Rosenau. Vermutet man hier noch am ehesten klare Bekenntnisse zum politischen Liberalismus etwa eines John Rawls, so wird man überrascht, wie klar die Autoren kommunitaristischen Thesen Zu­stimmung verleihen. Sogar utilitaristische Motive werden von einem Beitrag (vgl. Rosenau, 89–101) christlich-protestantisch ge­wendet und dadurch dem Kommunitarismus angenähert.
So harmonisch geht es im zweiten Teil nicht zu. Das ahnt man schon, wenn man seinen Titel »Pluralismus, Gemeinsinn und Zi­vilreligion« liest. Entsprechend kritisch fällt das Resümee von Walter Reese-Schäfer zum kommunitaristischen »Denken als Glau­bensakt« aus. Seiner Meinung nach gehen alle seine Varianten in einer »vielfach unkritischen und unhinterfragten Weise von der Voraussetzung aus«, dass »Religionen und religiöse Überzeugungen per se eine sozialintegrative Wirkung hätten« (117). Man darf an dieser Generalthese, die sogar den Beschluss einer ganzen Abhandlung einleitet, berechtigte Zweifel haben. Denn nirgendwo findet sich eine derartige Schlussfolgerung beispielsweise in dem von Edmund Arens porträtierten Werk von Robert Nelly Bellah. Dieser ist im­merhin der neben Amitai Etzioni, der gar keine eigene Be­handlung im Band findet, wichtigste Anhänger dessen, was man gemeinhin Kommunitarismus nennt. Vor allem aber ist er der viel zu sehr auf den Zivilreligionsbegriff reduzierte, damit völlig missverstandene und zugleich wohl bedeutendste lebende Religionssoziologe der Gegenwart. (Auch Arens ist im Übrigen nicht frei von solchen Missverständnissen, wenn er Bellah fälschlicherweise ein »evolutionistisches Religionskonzept« [152] zuschreibt.) Es überrascht daher, dass ausgerechnet Bellah, der wie kein anderer frühzeitig sozialwissenschaftliche Expertise mit theologischem und religionsphilosophischem Sachverstand verband, keine weitere De­tailstudie gewidmet ist. Das belegt, wie sehr die deutschsprachige Debatte an diesem Punkt hinterherhinkt. Die beiden anderen Studien dieses Abschnitts widmen sich der Möglichkeit und dem Plädoyer für eine liberale Bürgerreligion durch Heinz Kleger (133–149) sowie einer instruktiven Diskussion der Frage, ob mit Religion Staat zu machen sei. Zu Letzterem verhält sich Hans-Joachim Höhn kritisch, rezipiert aber zustimmend Agnes Heller, wenn es darum geht, in der politischen Ordnung eine für säkulare Stimmen verständliche »Leerstelle«, gerne auch messianisch, offenzuhalten (132).
Der dritte Teil, übertitelt mit »Globalisierung, Solidarität und Tugendethik«, versammelt Studien zur Renaissance tugendethischer Überlegungen (Elisabeth Anscombe, Peter Geach, Alasdair MacIntyre; vgl. die Beiträge von Karen Joisten [189–199] und Dagmar Borchers [201–227]) sowie zur Möglichkeit einer politischen Theologie des Judentums in der globalisierten Welt (vgl. Michael Brumlik, vgl. 179–187). Darüber hinaus verhandelt Hauke Brunk­horst das Verhältnis von Kapitalismus und Religion und kommt dabei zu einer recht holzschnittartigen These, wenn er für den internationalen Kontext bemerkt: »wieder sind es – wie einst im alten Europa – Kapitalismus und Religion, die sich der Kontrolle von Recht und Politik auf eine besonders bedrohliche Weise entwinden« (175).
Damit sind wir beim vierten Teil des Bandes angelangt, der nicht nur der umfänglichste des Buches ist, sondern wohl auch der äußere Anlass der Zusammenstellung. Er befasst sich mit Charles Taylors Opus Magnum A Secular Age. Dieses mittlerweile in un­zähligen Sammelbänden besprochene Werk wird hier von so unterschiedlichen Autoren wie Hans Joas, Thomas Rentsch, Christian Danz, Folkart Wittekind, Markus Knapp, Bernhard Laux und Wolfgang Palaver gewürdigt. Die Zugänge erweisen sich naturgemäß als sehr unterschiedlich: Während die einen Taylors Überlegungen nochmals an der Habermasschen Position spiegeln (aber auch an derjenigen von René Girard), erwecken andere den Eindruck einer doch sehr eigenwilligen Interpretation des Referenzautors. Da fordern die einen mehr systematische Argumentation ein, möglichst unter der Prämisse sauberer Trennung vom historischen Metanarrativ, was offenkundig der Programmatik Taylors zuwiderlaufen würde (so aber Rentsch: vgl. 246). Andere bemühen sich unter größtmöglichen Umständen um eine protestantische Taufe des bekennenden Katholiken (diesen Eindruck gewinnt man leider nach Lektüre der eindrucksvollen Studie von Wittekind: vgl. 261–282). Dabei hätte sich evangelische Theologie sehr ernsthaft die Frage zu stellen, worin sich die Taylorsche Catholic Modernity in ihrer sozialen Wirkung und religiösen Prägekraft so erfolgreich von der auf die spirituelle black box der Individuen fixierten protestantischen zu unterscheiden weiß. Bellah spricht an anderer Stelle vom »Flaw in the Protestant Code«. Genau dies ist jedenfalls unter theologisch-sozialphilosophischen Gesichtspunkten die Anfrage des Kommunitarismus an den Liberalismus.
Den Beschluss bilden die drei Abhandlungen des fünften Teils über »Toleranz, Politik und Exodus«, der von Walter Lesch, Skadi Krause und Michael Kühnlein bestritten wird. Thematischen Hin­tergrund bildet hierbei vor allem das Werk von Michael Walzer. Dessen Versuch einer säkularen Fundierung des Politischen aus dem Ge­halt des biblischen Bundesnarrativs scheint mir – darin bin ich mit dem Bandherausgeber einig – nach wie vor bedenkenswert, hat Walzer doch die »konzeptionellen Chancen dieser regenerativen Kraft, die in der interpretativen Neudeutung des Exodusgeschehens be­schlossen liegt« (387), dazu genutzt, der Moraltheorie einen wie­derholenden und damit für Pluralismus offenen Universalismus an­zubieten und der Gesellschaftstheorie »einen neuen Typus des mit seiner Gemeinschaft verbundenen Kritikers, der sich an der Gestalt des Propheten Amos orientiert« (ebd.), vorgeschlagen.
Abschließend sei betont: Der Band gibt einen guten Einblick in die Debatten um den Kommunitarismus der vergangenen drei Dekaden. Er belegt ferner, wie sehr diese mit der Rolle von Religion verbunden waren und nach wie vor sind. Doch kommen selbst die größten Theorieauseinandersetzungen in die Jahre, und so wird es Zeit für eine Selbsthistorisierung der Diskurse. Dazu ein letzter Gedanke, gleichsam als begründete Anfangsvermutung für die nunmehr bevorstehende Theoriearbeit: Könnte es nicht sein, dass die sehr unterschiedlichen Rezeptionen liberaler und kommunitaristischer Ansätze in der Theologie mehr noch als persönliche Voten kirchen- und religionspolitische Optionen zum Ausdruck bringen? Ideen und Interessen sind selten scharf zu trennen. Was spricht dagegen, wenn angesichts so mancher vatikanischer Entscheidung katholische Kollegen derzeit mehr mit Rawls lieb­-äugeln? Und was hindert uns Protestanten – über jede sinnvolle Kirchenstrukturdebatte hinaus – eigentlich daran, uns unserer eigenen kommunitären Elemente in Theologie und Gemeindepraxis erneut zu vergewissern?