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Ausgabe:

Januar/1996

Spalte:

66–69

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Moeller, Bernd [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kirchengeschichte. Deutsche Texte 1699–1927.

Verlag:

Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1994. 956 S. kl.8o = Bibliothek der Geschichte und Politik, 22. Bibliothek deutscher Klassiker, 121. Lw. DM 148,­. ISBN 3-618-66820-1.

Rezensent:

Gert Haendler

Nach einem Blick auf das Inhaltsverzeichnis sollte man mit der Einleitung beginnen (727). M. erinnert daran, daß die professionellen Kirchenhistoriker im deutschen Sprachraum ­ anders als im angelsächischen oder französischen ­ an den theologischen Fakultäten lehrten. Daher "ist den deutschen Kirchenhistorikern im 18. und 19. Jahrhundert die Verbindung mit der Sache, deren Geschichte sie zu studieren hatten, der Lebensbezug zur Kirche, in der Regel nicht verloren gegangen" (729). Zugleich standen sie im Rahmen der Universität den Historikern nahe, so daß durch sie der Prozeß der "Historisierung" Einlaß in Theologie und Kirche gewann. Kirchenhistoriker trugen aber auch zum Fortschritt der Geschichtswissenschaft "spezifische Erfahrungen in der historischen Urteilsbildung und spezifische Beobachtungen zum Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft bei, sie verfeinerten die psychologische Wahrnehmung und markierten die zentrale Bedeutung der Hermeneutik für die Historie" (730). Die Texte zeigen auch "Spannungen, in welche die Kirchenhistorie in diesem Zeitalter einerseits zur Theologie, andererseits zum allgemeinen Wahrheitsbewußtsein hin geriet" (731).

Als erster Kirchenhistoriker erscheint Gottfried Arnold. Aus seiner Unparteiischen Kirchen- und Ketzerhistorie werden mehrere Abschnitte geboten: Der Vorrede folgen der "Ketzer" Pelagius, der positiv gewürdigt wird, Papst Gregor VII., der in finsteren Farben gemalt wird, danach ­ sehr unzureichend ­ die Anfänge der Bettelorden, eine Charakteristik Luthers sowie der Beschluß des ersten Bandes "im Stil eines pietistischen Erbauungsbuches" (749). Die Texte stehen S. 9-96, die Quellenangabe S. 749, die Erklärungen S. 750-767; die Auswahl der Textabschnitte und ihre Kommentierung erhellen Anliegen von Arnolds Darstellung der Kirchengeschichte. Geschickt wird ein Übergang von Arnold zu Mosheim gefunden: Als Textproben wurden Ausschnitte gewählt aus Mosheims Buch über Michael Servet "Anderweitiger Versuch einer vollständigen und unparteiischen Ketzergeschichte" (97-163). Mosheim führte Arnolds Anliegen fort, indem er es "wesentlich korrigierte". So sorgte er dafür, "daß die Arnoldschen Impulse in die kirchengeschichtliche Wissenschaft sowohl aufgenommen als auch eingepaßt wurden" (771).

Von Johann Salomo Semler wird das Kapitel gebracht: "Vorbereitung über die Kirchenhistorie der ersten vier Jahrhunderte. Über den wahren Begriff der Historie" aus seinem Buch "Neue Versuche, die Kirchenhistorie der ersten Jahrhunderte aufzuklären" (164-189); es folgt Teil II seiner "Lebensbeschreibung von ihm selbst verfaßt" (190-221). Semler konnte seit etwa 1770 "als der führende Aufklärungstheologe in Deutschland gelten, und er genoß als solcher zeitweise höchstes allgemeines Ansehen" (783). Semler entwickelte vor Lessing die Vorstellung, "das Christentum sei ein auf Vervollkommnung hin angelegtes Gebilde, also weniger auf die Vergangenheit als vielmehr auf die Zukunft ausgerichtet" (785).

Drei Texte von Johann Adam Möhler folgen: "Die Einheit in der Kirche, oder das Prinzip des Katholizismus, dargestellt im Geiste der Kirchenväter der ersten drei Jahrhunderte" (Teil II) (223-278); "Betrachtungen über den Zustand der Kirche im fünfzehnten und zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts, in bezug auf die behauptete Nothwendigkeit einer, die bestehenden Grundlagen der Kirche verletzenden Reformation" (279-315); "Reliquien von Möhler. Einleitung in die Kirchengeschichte" (318-348). Zum Zusammenhang heißt es: "Zwischen den letzten Texten Semlers und den ersten Möhlers... vollzog sich in der Geistesgeschichte ­ und in besonders bewegten Formen in Deutschland ­ der Umbruch von der Aufklärung zu Romantik und Idealismus" (803). Schleiermacher und Neander hatten dem jungen Möhler einen "Anhauch von reformatorischem Geschichtsbewußtsein" vermittelt (809). Später setzte Möhler die Akzente anders: "Sowohl die Verklärung des Mittelalters als auch die Abwertung der Reformation wurden beinahe kanonisch..." (816). Von Ferdinand Christian Baur gibt es Auszüge aus dem Buch "Die Epochen der kirchlichen Geschichtsschreibung" (349-401), u.a. den Abschnitt über Mosheim und Semler (355-378), ­ eine weitere Querverbindung in diesem Band. Es folgt der erste Abschnitt aus dem Buch "Das Christentum und die Kirche der ersten drei Jahrhunderte" (402-443). Zum Zusammenhang zwischen Baur und Möhler heißt es: "So entwickelten die beiden Tübinger Professoren ihre grundlegenden Lehren über die jeweilige kirchliche Identität vor den Studenten und in unmittelbarer Konfrontation miteinander" (824). Noch zwei Urteile über Baur seien zitiert: "Fast möchte man urteilen, Hegels Geschichtstheorie habe bei kaum einem Historiker eine so kongeniale Anwendung erfahren wie bei diesem Schüler in der Ferne" (828). "Es war ein optimistischer Liberalismus, auf den Baurs Kirchengeschichtskonzeption hinauslief, mit Inkaufnahme offenkundiger Wahrnehmungsgrenzen" (831).

Johannes Joseph Ignaz von Döllinger kommt zu Wort mit seiner 1863 gehaltenen Rede über "Vergangenheit und Gegenwart der katholischen Theologie" (444-477) sowie dem Brief an seinen Erzbischof vom 28. März 1871 (478-493). Der Kommentar beginnt mit dem Satz: "Die Lebensgeschichte dieses bedeutenden katholischen Kirchenhistorikers umspannt fast das ganze 19. Jahrhundert und spiegelt die Wandlungen dieses Zeitalters in beinahe exemplarischer Deutlichkeit" (837). Döllingers Rede 1863 zeigt "das Wissenschaftspathos der Zeit,... so etwas wie ein sich aus der Kirchenhistorie nährender Fortschrittsglaube, dem alles möglich schien" (843). Der Brief 1871 enthält "ungeheure Erregung und tiefe Bitterkeit" (847). Der Abschnitt über Albert Hauck stellt Gemeinsamkeiten mit Döllinger fest: "Sowohl als Theologen wie als Historiker hatten sie Ansehen erlangt und Nachfolge gefunden, ja sie konnten ihre wichtigsten Erkenntnise in der historiographischen Theorie wohl für die Dauer verankern" (852). Aber Haucks Lebensweg verlief harmonisch; "Er war ein im Grunde unangefochtener Theologe" (855). In Hauck könnte man "wohl den Typus des deutschen Professors im wilhelminischen Zeitalter in besonders vollkommener Form repräsentiert sehen, wobei die anziehenden Züge die irritierenden vielleicht überstrahlten" (857). Aus Haucks Kirchengeschichte Deutschlands bietet M. die Abschnitte über Papst Gregor VII. (494-510) und die Anfänge der Bettelorden (510-539). Der Vergleich mit Gottfried Arnold (41-48) macht "deutlich, welche Veränderungen im Laufe von 200 Jahren deutschsprachiger Kirchengeschichtsschreibung vor sich gegangen waren. Der Leser hat Mühe, sich zu vergegenwärtigen, daß von derselben Sache und denselben Personen die Rede ist" (859). Ein kaum bekannter Aufsatz von Hauck "Luther und der Staat" von 1917 (540-550) läßt vermuten, "Haucks kirchengeschichtliche Darstellung der Reformation hätte, wenn sie zustande gekommen wäre, wohl Überraschungen geboten" (866).

Aus Harnacks Lehrbuch der Dogmengeschichte wählt M. zwei Abschnitte: Die Einleitung "Begriff und Aufgabe der Dogmengeschichte" (551-576) sowie "Der pelagianische Kampf. Die Lehre von der Gnade und Sünde" (576-601). Wieder zeigen sich die Unterschiede zu Gottfried Arnold (876). Es folgen Abschnitte aus dem "Wesen des Christentums" (602-644), um 1900 ein "Bestseller", dessen Erfolg "seither von kaum einem seriösen theologischen Buch wieder errreicht worden ist" (868). Harnacks Abhandlung "Christus praesens ­ Vicarius Christi" (645-689), war "der letzte größere wissenschaftliche Text des damals bereits 76jährigen Autors" (889). Als 4. Text folgt Harnacks Vortrag 1904 "Über das Verhältnis der Kirchengeschichte zur Universalgeschichte" (690-707). M. sieht darin auch "eine Zurückführung der Kirchengeschichte auf die Ge-schichte der frommen Individuen, wie sie einst bereits Arnold unternommen hatte, nun freilich im Geiste der liberalen Theologie. In unserer Sammlung kirchenhistorischer Texte schließt sich damit in gewisser Hinsicht ein Kreis..." (895).

Überraschend ist der abschließende "Ausblick" (897-904); das Buch mit dem Titel "Kirchengeschichte" endet 1923 mit Karl Barths Thesen (717-723) zu Harnacks "Fragen an die Verächter der wissenschaftlichen Theologie unter den Theologen" (714-717). Davor stehen noch einige Seiten von Franz Overbeck (708-713); M. nennt sie "beinahe unflätige Ausfälle gegen Harnack" (897). Dieser Text wäre verzichtbar gewesen. Viele tüchtige Kirchenhistoriker werden nur beiläufig erwähnt: z.B. August Neander, Karl Holl, Karl von Hase, Ludwig von Pastor, Reinhold Seeberg, Friedrich Loofs, Hans Lietzmann; es fehlen u.a. Johann Georg Walch, Hans von Schubert, Karl Heussi: Da hätte man auf Overbeck eher verzichten können! Nicht genannt wird Walter Niggs Buch "Die Kirchengeschichte" (1934) mit seiner These, daß der Fortschritt der Kirchengeschichtsschreibung einhergehe mit dem Verlust eines klaren Kirchenbegriffs. Das leise Bedauern über die letzten Seiten des Buches, besonders über den unerfreulichen Overbeck-Text, soll aber die Freude an diesem instruktiven Buch nicht vermindern. M hat die acht deutschen Kirchenhistoriker und ihre Texte mit viel Geschick ausgewählt, untereinander verglichen und verbunden sowie mit großer Sachkenntnis kommentiert. Auch Studenten sei der Band empfohlen.