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Ausgabe:

März/2012

Spalte:

372–374

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Rickers, Folkert, u. Bernd Schröder [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

1968 und die Religionspädagogik.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2010. 385 S. 22,0 x 14,5 cm. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-7887-2471-9.

Rezensent:

Jürgen Heumann

Die Herausgeber des Bandes, der so plötzlich Anfang 2011 verstorbene Duisburger Religionspädagoge Folkert Rickers und der seit Kurzem in Göttingen lehrende Religionspädagoge Bernd Schröder, versammeln hier Zeitzeugen und »Nachgeborene« zu einer der wohl inspirierendsten Dekaden der religionspädagogischen Nachkriegszeit, den 60er Jahren. Das Jahr 1968 hat dabei wohl eher symbolische Bedeutung, wird doch in den etwa 30 überwiegend pointiert gefassten Beiträgen nicht nur auf dieses Jahr hin rekurriert, sondern deutlich, dass die Ende der 60er Jahre und die weit darüber hinausreichende religionspädagogische Reformphase das Ergebnis eines bildungspolitischen, kirchlichen und religionspädagogischen Reformstaus seit den 50er Jahren war. – Es geht in den Beiträgen nicht nur um eine historische oder theologische Analyse oder um die Rekonstruktion einer religionspädagogischen Phase, sondern darum, ob diese Phase Folgen hatte bzw. gegenwärtig noch Bedeutung hat. Aber dazu später.
Der Band gliedert sich in vier Kapitel. Nach einer Überblick verschaffenden einleitenden Bestandsaufnahme zum Phänomen »68« durch die Herausgeber und einem Essay des Literaturkritikers Manuel Gogos, folgt in den Beiträgen des zweiten Kapitels der Blick auf gesellschaftliche Bereiche und die Kirchen.
Während die Beiträge im zweiten Kapitel eher eine beschreibend-analytische Sicht auf »68« werfen, finden sich im dritten Kapitel positionelle Stellungnahmen, kritische Rückblicke zu Reformen und Experimenten in Theologie, Kirche und Frömmigkeit. Aus Platzgründen können die hochinteressanten Beiträge hier nicht einzeln gewürdigt werden. Es ist aber ein Verdienst der Herausgeber, den Bogen zum Problem »68« über den Einfluss auf den Religionsunterricht hinaus gespannt zu haben, obgleich eine spezi­fische Rekonstruktion gegenseitiger Einflussnahmen zwischen Kirchen und schulischem Religionsunterricht spannend gewesen wäre (z. B. hinsichtlich der Wirkung des Kölner Politischen Nachtgebetes auf ganze Lehrergenerationen).
Das vierte Kapitel »Religionspädagogische Aufbrüche und ihre rückblickende Analyse« kann als zentrales Kapitel bezeichnet werden, geht es hier doch um Darstellung, Rekonstruktion und Positionierung zum evangelischen und katholischen Religionsunterricht unter den Ansprüchen von »68«. Auf dem Hintergrund der Krise der Autoritäten, in deren Strudel auch die Kirchen und erst recht ein kirchlich bestimmtes Unterrichtsfach gerieten, mit vielfältigen Agitationen gegen dieses Fach und hohen Austrittswellen (die merkwürdigerweise nur in zwei Beiträgen am Rande angesprochen werden), reagierten die Kirchen mit der Errichtung eigener Fortbildungsinstitute. Entscheidende Akteure aus diesen Instituten, die tatsächlich eine neue Ära des Religionsunterrichts einläuteten, sind in diesem Kapitel versammelt. Sie machen deutlich, dass es nicht nur um neue Konzeptionen für schulisches Lernen wie den projekt- oder problemorientierten Religionsunterricht ging; es ging im Grunde darum, »nicht mit theologischen Behauptungen oder Positionierungen, sondern nur auf dem Wege einer beharrlichen Problematisierung eines Welt- und Selbstbildes, … eine möglichst voraussetzungslose religionspädagogische Hermeneutik zu entwickeln« (206), wie die Leiter des Hamburger Instituts, Horst Gloy und Folkert Doedens, schreiben.
Freilich waren die Spannbreiten und Spannungen zwischen den unterschiedlich landeskirchlich geprägten Instituten beachtlich. Während die religionspädagogische Projektforschung in Baden-Württemberg sich mit ihrer Konzeption als »Dienst der Kirche in der Schule« verstand (212), wie der langjährige Leiter des Pädagogisch-Theologischen Zentrums Stuttgart, Gerhard Martin, mitteilt und sich damit bildungs- und kirchenpolitisch lediglich einer Restaurierung des Religionsunterrichts zuwandte, ging der Leiter des Pädagogisch-Theologischen Instituts in Kassel, Siegfried Vierzig, weiter, indem er für die Präferierung einer »humanistischen Erziehung vor dem Primat des kirchlichen Bekenntnisses« (225) eintrat, wobei nicht die Theologie, sondern die Religionswissenschaft als Mutterdisziplin heranzuziehen wäre. Während Siegfried Vierzig den Religionsunterricht zu Gesellschaft und Gesellschaftskritik hin öffnete und auch den christlichen Glauben und die Kirche nicht von ideologiekritischer Betrachtung ausnahm, hatte der katholische Religionspädagoge Hubertus Halbfas zum einen die Entklerikalisierung des Religionsunterrichts vor Augen und zum anderen die kulturhermeneutische Erweiterung seines Faches, die später in sein symboldidaktisches Konzept einmünden sollte. Das Verfahren zum Entzug der Lehrerlaubnis, auf das Halbfas in seinem Beitrag zu sprechen kommt, aber auch die wütende kirchliche und öffentliche Reaktion auf Vierzigs Beiträge, zeigt die fundamentalen Irritationen, die durch »68« in der Religionspädagogik und in den Kirchen ausgelöst wurden. Dass schon der Göttinger hermeneutisch geprägte Religionspädagoge Hans Stock einen entkonfessionalisierten Religionsunterricht forderte, der sich nur aus der Schule heraus begründen sollte, schildert der Braunschweiger Religionspädagoge Reinhard Dross in seinem universitären Zeitzeugenbericht. Der Frankfurter Religionspädagoge Dieter Stoodt erinnert noch einmal an seinen sozialisationsbegleitenden Religionsunterricht, während der Bremer Religionspädagoge Jürgen Lott an einen der umstrittendsten, aber auch bedeutsamsten Religionspädagogen der Nachkriegszeit, den Mainzer Gert Otto, erinnert. Insbesondere dessen »Handbuch des Religionsunterrichts« hat Generationen reformorientierter evangelischer Religionslehrer inspiriert und begleitet, nicht zuletzt, weil er seit 1968 einen konfessionellen Religionsunterricht »als Relikt einer historischen Epoche« (271) ansah und damit Lehrer stützte, die sich schon längst für überkonfessionellen Religionsunterricht entschieden hatten.
Es schließen sich diesen authentischen und nachvollziehbaren Darstellungen unter dem Stichwort »Bilanzierungen« drei Beiträge von »Nachgeborenen« an. Der Zürcher Religionspädagoge Thomas Schlag sucht nach »gegenwartsbezogenen Motive[n] in der Beschäftigung mit dieser Zeit« (276) und betont, dass nicht so sehr 1968 das entscheidende Jahr für die religionspädagogischen Aufbrüche war, sondern die Dynamik der 50er und 60er Jahre insgesamt.
Ob aber heute wirklich von den 50er Jahren, d. h. von Kittels Evangelischer Unterweisung, zu lernen ist, wie Schlag meint, bleibt, gemessen an den tatsächlichen Aufbrüchen der späteren Jahre, doch zweifelhaft. Der Essener Religionspädagoge Thorsten Knauth fragt in seinem Beitrag dezidiert nach den »unabgegoltenen Potenzialen«, die durch »68« provoziert wurden. Berechtigt verweist er auf das Konzept des Problemorientierten Unterrichts, das nach wie vor zu den religionspädagogischen Grundlagenkonzepten gehört und sich gegenwärtig im Umgang mit religiöser Vielfalt beweisen kann. Besonders wichtig aber erscheint Knauths Hinweis darauf, dass auch das Fragen nach »Gerechtigkeit und Anerkennung«, also zentralen Motiven jüdisch-christlicher Hermeneutik als Erbe der 68er Aufbrüche, weiterhin ein zentrales Paradigma für den Religionsunterricht sein muss; nicht zuletzt als Gegenpol zu gegenwärtigen »binnenkirchlich« orientierten Konzepten. Von katholischer Seite beschließt der Dortmunder Religionspädagoge Norbert Mette die Bilanzierung und verweist u. a. auf schon von Hubertus Halbfas formulierte unabgegoltene Ansprüche.
Ein fünftes Kapitel »Biographische Perspektiven« beschließt den Band. Die Münsteraner Religionspädagogin Annebelle Pithan skizziert die Skepsis gegenüber »68« am Beispiel einer der ersten Frauen im Fach, der Hannoveraner Religionspädagogin Liselotte Corbach. Folkert Rickers blickt noch einmal auf den Problemorientierten Religionsunterricht und kritisiert die »Systemkonformität« heutiger Religionspädagogik, und dass sich eine »gesellschaftskritische Sichtweise« nicht durchgesetzt habe.
Abgeschlossen und abgerundet wird der vielschichtige Band von Bernd Schröder als einem »Nachgeborenen«. Er skizziert für den sich bisher tapfer durchgeschlagen habenden Leser die Meriten der 68er Religionspädagogik mit ihrem Grundimpuls der Kritik an religiösen Strukturen und ihrem Bestehen auf Emanzipation und Mündigkeit. Sein Fazit allerdings irritiert, wenn er schreibt: »Ging es der damaligen Religionspädagogik um kritische Verunsicherung, so geht es heute um Gestalt suchende Vergewisserung« (377). Den ideologiekritischen Ansprüchen der 68er nimmt er gegenüber der gegenwärtigen systemkonformen Religionspädagogik damit die Spitze.
Zusammenfassend ist zu sagen, dass den Herausgebern ein spannendes, fast interaktives Buch gelungen ist, das durch die subjektive Sicht der Autoren den Leser immer wieder zu Reaktion und Diskurs herausfordert. Allerdings fehlen wichtige Stimmen – z. B. die des Tübinger Religionspädagogen Karl Ernst Nipkow. Dass die begonnenen Reformen des Religionsunterrichts auch von kirchlicher Seite verhindert wurden und werden, wird in einigen Beiträgen benannt. Ein eigener historisch-analytischer Beitrag zu Reaktion und Rolle der Kirchen wäre aber wichtig gewesen. Insbesondere die Beiträge der damaligen Akteure machen deutlich, dass eine Reform des Religionsunterrichts, die den tatsächlichen Bedürfnissen an eine öffentliche religiöse Bildung entspricht, noch aussteht. Insofern sollte dieser Band in der Ausbildung von Religionslehrern und Pfarrern lebhaft genutzt werden.