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Ausgabe:

März/2012

Spalte:

366–368

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Noth, Isabelle

Titel/Untertitel:

Freuds bleibende Aktualität. Psychoanalyserezeption in der Pastoral- und Religionspsychologie im deutschen Sprachraum und in den USA.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2010. 424 S. m. Abb. 23,2 x 15,5 cm = Praktische Theologie heute, 112. Kart. EUR 39,80. ISBN 978-3-17-021726-3.

Rezensent:

Hans-Jürgen Fraas

Dass Siegmund Freud zu den großen Denkern des 20. Jh.s gehört, wird niemand bestreiten. Dennoch gilt die Psychoanalyse inzwischen vielfach als »altmodisch und wissenschaftlich überholt« (15), ihre Ausbildungsstätten ermangeln des Zulaufs, ihre Verfahren werden von den Krankenkassen nicht mehr finanziert. Die Impulse für Kulturgeschichte, Anthropologie und Theologie, die von Freud ausgegangen sind, werden übersehen – dabei hatte gerade Freud selbst großen Wert auf die gesellschaftstheoretischen Implikationen seiner Ideen gelegt.
Wenn man freilich den gesamten Freudianismus auf einige anfänglich einseitige Ideen beschränkt und nicht die mächtige Bewegung sieht, die schon bald einsetzt und sich von der ur­sprünglichen Trieb- zur Ich- und Selbst-Psychologie erweitert einschließlich der sozialen und kulturtheoretischen Aspekte, mag das nicht verwundern. Vielen ist der »Umbruch der psychoanaly­tischen Theorie« bereits zwischen 1921 und 1926 völlig entgangen (Cremerius; vgl. Noth, 100). Die freudianische Herkunft bestimmter Erkenntnisse in allen Richtungen der Psychotherapie wird meistens verschwiegen (H. Thomä; Noth, 22).
Von umso größerer Bedeutung ist die hier vorgelegte Züricher Habilitationsschrift von Isabelle Noth. Sie fragt nach der »bleibenden Bedeutung Freuds und der von ihm initiierten Psychoanalyse für die Seelsorge« (54) und will zugleich »die rein innerpastoralpsychologische Sichtweise durch den Einbezug der Religionspsychologie« und »die bisherige deutschsprachige Innendebatte durch den Einbezug US-amerikanischer Forschungsperspektiven erweitern« (55).
In einem ersten Abschnitt des bereits sehr bedeutsamen Einleitungskapitels geht es um die Psychoanalyse-Rezeption in der (Praktischen und Systematischen) Theologie einschließlich der seit den 1990er Jahren bestehenden Kontroverse um die weitere Einschätzung der Seelsorge-Bewegung (24). Darin wird deutlich, dass bis auf geringe Ausnahmen eigentlich nur die Pastoralpsychologie in einer theologischen Sonder-Rolle die Psychoanalyse rezipiert hat. Gegenwärtig sei aber eine Bedeutungserweiterung zu beobachten, nach der die Pastoralpsychologie nicht mehr als bloße Subdisziplin gilt, sondern vielmehr die »Grunddimension der Praktischen Theologie« darstelle (M. Klessmann; vgl. Noth, 19). Dabei dürfe die Theologie sich nicht ohne die Bestimmung der zur Geltung zu bringenden Kriterien an die Psychologie anpassen (35). Erfreulicherweise öffne sich andererseits die Psychoanalyse zunehmend religiösen Fragen (35).
Ein zweiter Abschnitt behandelt den »interdisziplinären Streit über das angemessene Verhältnis von Psychologie, Religionswissenschaft und Theologie« (25), der wesentlich dadurch bedingt ist, dass in Deutschland, anders als in den USA, die Entwicklung der Religionspsychologie seit dem Nationalsozialismus vernachlässigt wurde, so dass es zu einem Gespräch zwischen Pastoral- und Religionspsychologie kaum gekommen ist. Vor allem fällt die »Reserviertheit der Psychologen gegenüber Theologie und Religion« ins Gewicht (48), wobei aber zunehmend ein partnerschaftliches Verhältnis eingefordert wird.
Der historische Teil (II.) beginnt zwangsläufig mit Oskar Pfis­ters Verhältnis zu Freud, wobei der kontroversen Einstellung beider zur Religion ein breiterer Raum gewidmet wird. Durchgängig besticht die materialreiche akribische Darstellung, wobei auch neue Quellen erschlossen werden. Der Briefwechsel zwischen O. Pfister und Th. Reik, die Psychoanalyse-Rezeption im katholischen Österreich und die religionspsychologische Forschung in Wien, die Position »des deutschen Lutheraners Karl Beth« und des reformierten Schweizer Pfarrers Hans Burri als eines Mannes der Dialektischen Theologie bereichern den Überblick.
Der dritte Teil stellt »ausgewählte Beispiele neuerer pastoralpsychologischer Auseinandersetzungen mit der Psychoanalyse« dar (194). Bei der theologischen Wiederentdeckung des »ganzen« Freud (197) steht Joachim Scharfenberg im Mittelpunkt, der Rezeptions-Abbruch bei Isolde Karle und der Neuansatz bei Uta Pohl-Patalong, Christoph Morgenthaler und Anne M. Steinmeier folgen. Aus den USA werden Nancy J. Ramsay, Pamela Cooper-White und Emmanuel Y. Lartey vorgestellt.
Im vierten Kapitel, das sich der Religionspsychologie widmet, wird S. Heines bemerkenswerte (allerdings in ihrem Ausschluss theologischer Autoren restriktive) Freud-Interpretation einschließlich der Kontroverse mit Jan Assmann über Freuds Erklärung des Antisemitismus referiert. B. Grom, der Freuds Religionsverständnis ausschließlich negativ wertet, im Grund aber an der psychoanalytischen Fragestellung nicht interessiert ist, gibt demgegenüber nach N. nicht viel her. Als dritter deutscher Vertreter wird W. Schmidbauers fragwürdiges Konstrukt nur wegen des Autors Popularität behandelt (327 ff.).
In den USA gilt auf dem Hintergrund einer breiten Übersicht der Schulen D. M. Wulff als wichtigster Gesprächspartner. Er fordert einen Neustart unter Rückbesinnung auf die Gründungsväter (339). Die empirisch arbeitenden Schulen haben gegenüber den psychoanalytisch-hermeneutisch vorgehenden die Vorherrschaft inne. Die feministische Religionspsychologie bildet einen Sonderaspekt der US-amerikanischen Situation. Der Abschnitt schließt mit der Formulierung von Bedingungen für den interdisziplinären Dialog zwischen Theologie und Psychologie (371).
Der Ausblick (Kapitel V) zeigt, »wie stark und mit welchem Ertrag Freud und die in seiner Nachfolge stehende Weiterentwick­lung der Psychoanalyse trotz ihres unsicheren wissenschaftstheoretischen Status bis auf den heutigen Tag diese beiden Fachgebiete (Pastoral- und Religionspsychologie) prägen« (375). Daraus entwi-ckelt N. die erfreuliche Aufwertung einer psychoanalytisch orientierten Religionspsychologie (377) im Sinn einer Untersuchung des allgemein-religiösen, nicht spezifisch christlichen Erlebens. Winnicott und seine gegenüber Freud neue Form, Religion zu verstehen, biete dafür einen guten Ansatz, wiewohl Freuds Religionskritik (Religion als Wunsch-Denken) nicht übersehen werden dürfe, sich jedoch dem extra nos der Theologie als Herausforderung zu stellen habe.
Dabei gehe es um die Übertragbarkeit psychoanalytischer Kompetenzen in undogmatischer Offenheit (»die Psychoanalyse gibt es schon lange nicht mehr«, 388). In jüngster Zeit wurde ein Kompetenzen-Katalog entwickelt, der schulübergreifend ist. An diese Liste könne Seelsorge anknüpfen; zumal der Seelsorger einen größeren Handlungs-Spielraum als der Psychoanalytiker habe, ohne aber die Therapie »zu einem Hilfsmittel der Seelsorge zu degradieren« (ebd.). Wo die Psychotherapie ihren interaktiv-kommunikativen Charakter entdeckt, könne die Seelsorge Anschluss finden, in der »psychosystemischen Beziehungs- und Komplex-Kompetenz«, in der neben der Übertragung auch die Gegenübertragung legitim zum Zug komme, die die therapeutische bzw. seelsorgerliche Be­ziehung als solche in den Mittelpunkt stelle (390). Das Wissen um das eigene kirchliche Eingebundensein und das Eingebundensein der Kirche in gesellschaftliche Zusammenhänge und strukturelle Ungerechtigkeiten verweise auf die spezifische »theologisch-spirituelle Kompetenz« des Seelsorgers.
So öffnet N. neben vielen interessanten Einzelaspekten für Pastoral- und Religionspsychologie klare Zukunftsperspektiven. Eine klare, eingängige Sprache rundet das Bild ab. Wer sich von dem Thema angesprochen fühlt, wird das Buch mit großem Ge­winn lesen.