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Ausgabe:

Januar/1996

Spalte:

64–66

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Hübinger, Gangolf

Titel/Untertitel:

Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1994. XII, 347 S. gr.8o. Lw. DM 178,­. ISBN 3-16-146139-8.

Rezensent:

Kurt Nowak

Diese Habilitationsschrift aus dem Jahr 1991 am Historischen Seminar der Universität Freiburg ist in einem Gelände angesiedelt, auf dem sich mannigfache Deutungsinteressen überkreuzen. Der Vf. fragt nach dem gesellschaftlichen Geltungsbereich und dem Selbstverständnis des sog. "Kulturprotestantismus" in Deutschland von ungefähr 1890 bis 1914. Sein Ergeiz zielt darauf, im Medium konfessionsbezogener Forschung Antwort auf eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung zu geben. War die wilhelminische Gesellschaft bereits hochgradig fragmentiert und pluralisiert oder lebte sie noch in halbautoritären politischen Strukturen? Thomas Nipperdey charakterisierte sie als "Untertanengesellschaft". Wolfgang J. Mommsen nannte sie ein "System umgangener Entscheidungen". Der Vf. setzt der Diskussion um den Charakter der wilhelminischen Gesellschaft im Spannungsfeld von moderner Fragmentierung und konservativer Homogenität die These von der "kulturellen Versäulung" entgegen. Dieses Deutungsangebot versucht gleichsam die Mitte zwischen den Polen Fragmentierung und Homogenität zu halten, insofern nämlich, als "Versäulung" als Fragmentierung auf halbem Wege verstehbar ist.

Unter den "sozialmoralischen Milieus" der wilhelminischen Ära stellt der Kulturprotestantismus wegen seiner teilweise unfesten Konturen, seiner internen Vielfalt und wegen des Fehlens einer starken Laienbewegung eine besondere Herausforderung für die Forschung dar. Intensiver als beim Katholizismus, bei der Sozialdemokratie und beim konservativen Protestantismus waren seine Organisationsformen und Zielsetzungen in Strukturen der Gesamtgesellschaft eingewoben. Die Gründe dafür liegen im Selbstverständnis des Kulturprotestantismus und in den Konditionen der Moderne.

Gegliedert ist die Studie in sieben Kapitel: I. Einleitung: Fraktioniertes Bürgertum. II. Die verlorene Kulturhegemonie. III. Gesinnungsvereine im Industriezeitalter. IV. Kirchlicher und politischer Liberalismus. V. Erfahrung der Moderne, Bildung und Verfassung. VI. Kulturstaat, Kulturhegemonie, Kulturkampf. VII. Schluß: Die kulturelle Versäulung der wilhelminischen Gesellschaft. Wie die Gliederung erkennen läßt, bilden das Eingangs- und das Schlußkapitel die theoretischen Klammern (Angebot einer Strukturtheorie der wilhelminischen Gesellschaft), während die Kapitel II-VI verschiedenartige Problem- und Sachperspektiven entfalten. In Kapitel II zeichnet der Vf. den Kulturprotestantismus in den Prozeß der endgültigen Umgestaltung des Deutschen Reichs vom Agrar- zum Industriestaat ein. War "das kulturprotestantische Milieu insgesamt eine... langanhaltende Übergangserscheinung vom nachständisch-hausväterlichen zum klassenantagonistischen, aber auch wohlfahrtsbürokratischen Gesellschaftstyp" (49)? Die Frage ist interessant, steht aber vielleicht in einer stärkeren Spannung zur Theorie der "Versäulung", als der Vf. zu sehen scheint. Kapitel III ist der Soziologie des kulturprotestantischen Vereinswesens gewidmet. Besondere Aufmerksamkeit erfahren der "Protestantenverein", die "Freunde der Christlichen Welt" und der "Evangelisch-soziale Kongreß". Die Vereinsstrukturen steckten jene Handlungsfelder ab, auf denen der liberale Protestantismus ge-sellschaftlich und kirchlich wirkte. Mit dem Verhältnis von kirchlichen und politischen Liberalismus befaßt sich Kapitel IV. Trotz institutioneller Verbindung zu den liberalen Parteien hielt die Mehrzahl der kulturprotestantischen Geistlichen und Theologen Distanz zum "rein" Politischen. Im kirchlichen Bereich schlug sich diese Haltung als Hemmnis bei der "kulturellen Vergesellschaftung nach liberalen Denkmustern" nieder (144). Umgekehrt sperrten sich die liberalen Politiker der Theologisierung des Politischen, die aus dem kulturprotestantischen Geist einer Superintegration der Gesellschaft lebte (159). Den Gemeinsamkeiten zwischen kirchlich-theologischem und politischem Liberalismus stand ein hohes Maß an Differenz gegenüber. Unterschiedliche Vorstellungen gab es z.B. in der Kirchenfrage, in der Sozialpolitik und in der Frauenfrage. In den Kapiteln V und VI beschäftigt sich der Vf. mit politisch relevanten Ideenkomplexen des kulturprotestantischen Milieus: Nation, Staat, Verfassung, Klassenkampf, Judentum, Katholizismus, Kulturtheologie. Diese Passagen bieten dem Leser viele gute Einblicke. Hervorgehoben sei die Analyse des Verhältnisses der liberal-protestantischen Gruppen Deutschlands zum "Weltkongreß für freies Christentum" (251 ff.). Gleichwohl drängt sich insgesamt der Eindruck des Aphoristischen auf. Zu viele und zu gewichtige Themen werden auf gar zu engem Raum behandelt. Mitunter geht der Bezug zur Leitperspektive (Theorie der Gesellschaft, politische Kultur der wilhelminischen Ära) etwas verloren, etwa dort, wo der Vf. sich mit der Verlagspolitik von Paul und Oskar Siebeck beschäftigt (190-219). Zweifellos ist dieses Teilkapitel mitsamt seinen aussagekräftigen Statistiken zu den Auflagenhöhen kulturprotestantischer Autoren (196-198; 208-219) lesenswert, wirft aber doch die Frage nach dem Zusammenhang von Theoriedesign und Empirie auf. Verlagsgeschichtliche Untersuchungen überspannen einerseits den Geltungsbereich des Themas politische Kultur, das im Mittelpunkt der Studie steht, passen andererseits freilich nicht schlecht zum Deutungsmuster "kulturelle Versäulung". Wenn jedoch Kultur weit jenseits des engeren Einzugsbereichs von politischer Kultur zum Gegenstand wird, dann meldet sich unabweislich die Frage, warum der Vf. dann nicht auch noch andere Kulturbereiche beachtet hat (Schule, Künste, alltägliche Lebenswelt usf.). Es wäre hilfreich gewesen, den vielfach nur exemplarischen Charakter der jeweiligen Detailuntersuchungen deutlicher zu betonen, dann aber auch permanent die Frage nach deren Tragfähigkeit zugunsten der These von der "kulturellen Versäulung" zu stellen. Mit dem Versuch zur Integration von Makroskopie und Mikroskopie hat sich der Vf. vor ein echt Webersches Dilemma gestellt.

Einen sensiblen Punkt berührt der Vf. bei der Behandlung der Beziehungen des Kulturprotestantismus zum Judentum. Die kulturstaatlichen Hegemoniekonzepte der Theologen des Kulturprotestantismus konterkarierten Konzepte pluralistischer Toleranz. Für die Umformung des Staates "zum weltanschauungsneutralen Garanten eines religiösen Pluralismus" (275) bestand wenig Verständnis. Die polemische These, eine liberal übertünchte "protestantische Ideologie" sei am Ende gefährlicher gewesen als der Vulgärantisemitismus, weist der Vf. mit Recht zurück. Indes stimmt er der These Amos Funkensteins von den "Konfrontationskulturen" offenbar zu (273). Unterschätzt er damit nicht die theologischen und kulturellen Austauschprozesse zwischen liberalem Protestantismus und liberalem Judentum?

Der Vf. meint, in der versäulten wilhelminischen Gesellschaft sei der Kulturprotestantismus die schwächste Säule ge-wesen. Hinzugefügt werden muß, daß einige Phänomene, die entweder nur ganz kurz oder gar nicht behandelt werden, zur Theorie der "kulturellen Versäulung" nicht recht passen wollen. Dazu gehört der kulturprotestantische Habitus flexibler Wirklichkeitsverarbeitung. Das vom Vf. selbst konstatierte Schwinden der Polarisierung von Ethizismus und Ökonomismus in der Wirtschaftsethik (288) bedient m.E. die Versäulungstheorie nicht. Angesichts der Beweisnot, in die der Vf. an diesem Punkt gerät, muß er sich argumentativ in Darlegungen zur Abgrenzung der kulturprotestantischen Wirtschafts- und Sozialkonzepte vom schweizerischen Religiösen Sozialismus flüchten. In den Beschreibungen des Verhältnisses Kulturprotestantismus ­ Katholizismus hätten die von manchen liberalen Protestanten geförderten Bemühungen um interkonfessionellen und interkulturellen Ausgleich mehr Beachtung verdient. Ein Mann wie Harnack war deswegen öfters in Rom tätig. Allerdings fügt sich die Politik des Ausgleichs nicht besonders gut in die Versäulungstheorie ein.

Zum Schluß bleibt die Frage, ob das vom Vf. aufgearbeitete Material und die von ihm bevorzugten Blickpunkte ausreichen, uns eine auf die wilhelminische Gesellschaft im Ganzen abgestellte These von der "kulturellen Versäulung" zu stützen. Unabhängig davon bietet die Studie viele Anreize. Sie fügt den in den letzten Jahren auf vielen Ebenen vorangetriebenen Forschungen zum kaiserzeitlichen Kulturprotestantismus Beachtenswertes hinzu.