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Ausgabe:

März/2012

Spalte:

363–366

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Müller, Luzius

Titel/Untertitel:

Grenzen der Medizin im Alter? Sozialethische und individualethische Diskussion.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2010. 456 S. 22,5 x 15,0 cm. Kart. EUR 45,00. ISBN 978-3-290-17553-5.

Rezensent:

Johannes Eurich

Die Grenzen der Medizin sind angesichts des medizinisch-technischen Fortschritts, des demographischen Wandels und des Kostendrucks in der Gesundheitsversorgung ein heute viel diskutiertes Thema. Da besonders in den letzten zwei Lebensjahren im statistischen Durchschnitt hohe Gesundheitskosten entstehen, liegt die Frage nach den Grenzen der Medizin im Alter nahe. Luzius Müller geht diesen Themenkomplex in seiner Basler Dissertationsschrift an, indem er den Altersbegriff und insbesondere das kalendarische Alter als Grenze für medizinische Leistungen untersucht und nach Konsequenzen für Altersrationierungen wie nach alternativen Umgangsweisen zu diesen fragt.
Die Grundlagen seiner Untersuchung werden im ersten Teil mit der Konstruktion und Fundierung der Begriffe Würde und Alter gelegt. Ausgehend vom Begriff der Endlichkeit zielt die Argumentation in den ersten Kapiteln auf die Begründung menschlicher Würde, zuerst auf Grundlage soziokultureller Kategorien als Konsequenz der kognitiven Endlichkeit, dann in theologischer Perspektive unter Diskussion naturrechtlicher Grundlegungen vor allem in der dogmatischen Grundbestimmung des Menschen als Gottes Ebenbild. Der theologische Würdebegriff bildet nach M. das Verbindungsstück zwischen medizinischem Handeln, das dem Wohl des Menschen verpflichtet ist, und dem eschatologischen Heil, das altersindifferent ist. Zur Altersbestimmung werden der chronologische, der biologische und der psychosoziale Altersbegriff vorgestellt. Methodische Probleme und Unzulänglichkeiten in der Konstruktion der verschiedenen Altersbegriffe lassen ihre Verwendung als Kriterium der gesundheitspolitischen Altersrationierung problematisch erscheinen, so dass für medizinische Entscheidungen nur das biologische Alter ausschlaggebend sein sollte. Da dieses keine eindeutige Korrelation zum chronologischen Alter hat, ist es zwingend individuell zu bestimmen. Biologische Alterungsvorgänge sind als komplexe Wechselwirkung endogener und exogener Faktoren zu verstehen, so dass auch der Einfluss gesundheitlicher Ungleichheiten zu berücksichtigen ist. Wichtig für die ethische Dis­kussion ist das Fazit aus der Analyse der einzelnen Modelle des Alters, die ein Beleg dafür sind, »dass moralische Wertungen des Alters den Status partikularer Selbstdeutungen haben, welche zwar für autonome medizinische Entscheidungen im Einzelfall handlungsleitend sein können, aber keinesfalls zur Basis allgemeingültiger gesundheitspolitischer Entscheidungen im liberalen Staat werden dürfen« (151).
Damit ist die Basis gelegt für die Auseinandersetzung mit der Rationierung medizinischer Leistungen im Alter. Dem bisherigen Ansatz entsprechend werden im zweiten Teil der Arbeit unterschiedliche Konstruktionen des Begriffs Altersrationierung in drei Kontexten, dem volkswirtschaftlich-gesundheitspolitischen, dem medizinethischen und dem zeitgeschichtlichen, dargestellt und auch die Frage der Kostenexplosion im Gesundheitswesen diskutiert. Letztere hat die Suche nach Rationalisierungspotentialen vorangetrieben und verdeckte Rationalisierungen nach sich gezogen. M. argumentiert hier für eine trennscharfe Differenzierung zwischen Rationalisierung und Rationierung, indem er eine Ra­-tionalisierung dann als gegeben ansieht, wenn eine mindestens gleichbleibende medizinische Leistung gewährleistet ist. Führen Rationalisierungsprozesse zu verminderten Leistungen für den Pa­tienten, ist von einer Rationierung zu sprechen. Kriterium der Leis­tungsbemessung ist die medizinische Notwendigkeit. Die Deutung von Rationierung als negativer Vorenthaltung notwendiger medizinischer Leistungen wird zugunsten eines gesundheitsökonomischen Verständnisses zurückgewiesen: Rationierung meint die Zuteilung von immer schon begrenzten kollektiv finanzierten Gütern. Diese Zuteilung kann auch unter dem Kriterium medizinischer Notwendigkeit »nicht allein aufgrund medizinischer oder ökonomischer Faktoren erfolgen, sondern fordert eine Beurteilung der gesundheitsökonomischen und medizinischen Befunde nach Massgabe ethischer … und gerechtigkeitstheoretischer Überlegungen« (183). Bevor diese Beurteilung im dritten Teil anhand zweier unterschiedlicher Konzepte der Altersrationierung vorgenommen wird, folgt zuerst noch eine knappe, aber instruktive Darstellung unterschiedlicher Rationierungsformen (harte und weiche R., di­rekte und indirekte R., verdeckte und offene R., explizite und implizite R.), die auch die Frage der Rationierungsentscheidungen auf un­terschiedlichen Verteilungsebenen sowie die Diskussion der Instrumente bzw. Kriterien der Verteilung (u. a. Cost-Benefit-Analysen, QALYs, Triage) beinhaltet. Das abschließende Kapitel zur Altersrationierung leitet schon zum dritten Teil des Buches über, in dem nicht nur medizinisch-ethische Richtlinien aus der Schweiz und den USA diskutiert werden, sondern insbesondere nach der Bedeutung der moralischen Intuition im Blick auf Altersrationierung gefragt wird.
Die in Teil III behandelten Ansätze zur Altersrationierung sind gut ausgewählt: zum einen der eher güter- und tugendethisch orientierte Ansatz von Daniel Callahan, zum anderen der im Gefolge von Rawls ausgearbeitete egalitaristisch-kontraktualistische Ansatz von Norman Daniels. Zwar kann man fragen, warum mit Callahan eine spezifische Sicht des Alters, die in einem phänomenologischen Zugang gewonnen wird, behandelt wird. An diesem Ansatz kann M. jedoch exemplarisch zeigen, was für alle partikularen Altersbilder gilt: Im pluralistischen Staat können sie aufgrund ihrer Partikularität nicht als Begründungsbasis dienen. Bei Daniels Ansatz schlägt dagegen die schon bei Rawls kritisierte transzendentale Begründungsfigur des gerechtigkeitstheoretischen Entwurfs in negativer Weise auf die Anwendungsebene durch: Sein Ansatz biete keine Handhabe für material-gesundheitspolitische Regelungen. Zudem operiere sein Ansatz mit verdeckten naturrechtlichen Annahmen zum Alter.
Im vierten Teil werden folglich alternative Umgangsweisen hinsichtlich der Grenzen der Medizin im Alter erprobt. In individualethischer Perspektive untersucht M. die ärztliche Behandlung auf ihren Sinn, ihre ethischen Rahmenbedingungen und ihre In­strumente wie den Informed Consent. Mittels der Habermasschen Diskursethik werden Praxisvollzüge auf ihre kommunikativen Defizite zwischen Arzt und Patient analysiert und dann auf die gegenwärtig geltenden Schweizer Richtlinien bezogen. Besonders bei Einschränkungen der Autonomie des Patienten aufgrund spezifischer Krankheiten (Altersdemenz und Altersdepression) werden die Schwierigkeiten dieses Ansatzes deutlich. Dass in individualethischer Perspektive nicht nur der Medizin entsprechende Orientierungsmöglichkeiten für die Therapieevaluation und den Informed Consent gegeben, sondern auch der Gesundheitspolitik Hinweise für Allokationsfragen und Priorisierungsentscheidungen geliefert werden können, ist die Kernthese dieses Teils der Arbeit. Die dabei vorgenommene Abgrenzung des Begriffs der Therapiebegrenzung von der oben diskutierten Rationierung entspricht zwar der individualethischen Perspektive, umgeht aber durch die ausschließliche Konzentration auf das Wohl und die Autonomie des Einzelnen unter Abblendung ökonomischer und verteilungstheoretischer Aspekte die eigentliche Problematik. Diese wird im letzten Kapitel mit dem von Peter Dabrock vertretenen Ansatz der Befähigungsgerechtigkeit wieder aufgenommen: Als Gegenentwurf zum liberalen Modell negativer Freiheit wird beim Befähigungsgerechtigkeitsansatz auf ein theologisch anschlussfähiges Menschenbild verwiesen, das den Einzelnen und seine Autonomie immer schon im Blick auf die Sozialität des Menschen denkt und daher die Befähigung zu einer integral-eigenverantwortlichen Lebensführung von den Teilnahmemöglichkeiten an sozialer Kommunikation her versteht und auf diese ausrichtet. Im Blick auf Allokationsentscheidungen wird dann – relativ knapp und entsprechend vage – ein Priorisierungsverfahren favorisiert, das Hinweise zu (altersbezogenen) Kriterien auf den einzelnen Verteilungsebenen ermöglicht.
An der Arbeit besticht die stringente ethische Argumentation, die nicht zu unangemessenen Urteilen drängt, sondern gerade die komplexe Frage nach Altersrationierungen in ihren unterschiedlichen Aspekten differenziert und die verdeckten Annahmen unterschiedlicher Ansätze offenlegt. Dabei fließen immer wieder Praxisbezüge ein, die das Buch auch für Mediziner und Pflegekräfte zu einer wertvollen Lektüre machen. Theologische Leser dürften an einigen Stellen – z. B. bei der Begründung der Würde auf Grundlage der Gottebenbildlichkeit – eine stärkere exegetische Diskussion einschließlich neuerer Forschungsergebnisse einfordern. Im Blick auf den gewählten Ansatz der Befähigungsgerechtigkeit hätte man sich eine ausführlichere Darstellung gewünscht, z. B. auch im Blick auf die Frage, ob nicht die Auseinandersetzung letztlich auf einer anderen Ebene ausgetragen werden muss, nämlich im Streit über die zugrunde liegenden Menschenbilder. In der Arbeit werden die unterschiedlichen anthropologischen Bestimmungen zwar benannt, aber der Ansatz der Befähigungsgerechtigkeit hätte hier deutlicher auf seine Leistungsfähigkeit im Blick auf das Alter expliziert werden können. Trotzdem stellt das Buch eine sehr gelungene Dissertation dar, da es die zentralen Fragen und ausgewählte Ansätze in klarer Sprache und Argumentation auf den Punkt bringt.