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Ausgabe:

März/2012

Spalte:

359–361

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hermelink, Jan

Titel/Untertitel:

Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens. Eine praktisch-theologische Theorie der evangelischen Kirche.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2011. 328 S. m. Abb. 23,2 x 15,8 cm. Geb. EUR 29,95. ISBN 978-3-579-08118-2.

Rezensent:

Johannes Greifenstein

Dass der Göttinger Praktische Theologe Jan Hermelink in kirchentheoretischen Fragen gegenwärtig zu den profiliertesten Autoren zählt, dokumentiert nicht erst das vorliegende Buch. Umso erfreulicher ist es jedoch, dass H.s »Theorie der evangelischen Kirche« nicht nur einen Ertrag seiner bisherigen Beschäftigung mit dem Thema in Form einer Aufsatzsammlung bietet, sondern eine umfassende und eigenständige Gesamtdarstellung.
Ihre Zielsetzung und ihr Aufbau ist Anregungen Schleiermachers verpflichtet (24–30). Zunächst rekurriert H. auf dessen Gedanken, die Theologie ingesamt »als Theorie einer ›zusammenstimmenden Leitung der Kirche‹ zu konzipieren« (27), so dass auch die Kirchentheorie in einer Theorie der Kirchenleitung ihr Ziel findet. Für den Aufbau der Kirchentheorie wird sodann Schleiermachers Idee einer dreifachen Gliederung des theologischen Wissenschaft fruchtbar gemacht, indem auch in der Kirchentheorie zunächst die philosophisch-theologische (31–123), sodann die historische Perspektive zu verfolgen sind (125–218), bevor die praktisch-theologische Reflexion das Thema abschließen kann (219–301). So bietet H.s Buch eine zwar aus praktisch-theologischer Sicht entworfene, aber die Theologie und ihren differenzierten Zugang insgesamt repräsentierende Theorie der evangelischen Kirche und ihrer Leitung.
Der systematische, erste Teil führt vor der Erörterung zeitgenössischer Positionen (E. Herms, W. Huber) zunächst in die theologische Theoriegeschichte ein, anschließend kommen auch die Soziologie und die Praktische Theologie zur Sprache. Auf diese Weise beschränkt sich die Funktion Letzterer nicht darauf, nach systematischer Grundlegung und historischer Entfaltung lediglich den technisch-pragmatischen Abschluss zu bilden, vielmehr soll auch sie einen Beitrag zur systematischen Theoriebildung leisten. Dieser besteht näherhin in der Entfaltung eines praktisch-theologischen Begriffs der Kirche (89–123), der das inhaltlich und formal organisierende Zentrum des Buches darstellt.
H.s Kirchenbegriff wird nach vier Dimensionen entfaltet, die auch die einschlägige Definition prägen. Danach ist »die evangelische Kirche der Gegenwart als eine Organisation zur öffentlichen Inszenierung des Glaubens zu begreifen, die das gesellschaftlich vorgegebene Verständnis von Glauben und Kirche (›Institution‹) ebenso aufnimmt wie deren konkrete gemeinschaftliche Praxis (›Interaktion‹)« (89). Die systematische Schlüsselfunktion der vier Leitbegriffe Organisation, Institution, Interaktion und Inszenierung zeigt sich im weiteren Durchgang daran, dass sie die sachliche Darstellung sowohl des historisch-empirischen Teils als auch des praktisch-theologischen Schlussteils nahezu durchgängig gliedern.
Im Zentrum von H.s Kirchenverständnis steht der Organisationsbegriff. Unter Organisation ist dabei jenes kirchenleitende Handeln verstanden, das die Erkennbarkeit und Prägnanz des christlichen Glaubens – zwei Schlüsselbegriffe von H.s Konzeption – durch strukturierende Ordnungsleistungen sicherstellt (89–103). Zum einen seien im Blick auf »kulturelle Pluralität und individuelle Mobilität … die Konturen christlich-religiöser Kommunikation nur dadurch erkennbar und anschlussfähig, dass sie über Grundtexte, Agenden und Amtspersonen koordiniert werden« (93, vgl. 122), zum anderen sei »[a]ngesichts der protestantischen Betonung individueller Freiheit und Mündigkeit« festzuhalten, »dass die kirchliche Leitungspraxis nicht nur verbindlicher Grundtexte, sondern auch verlässlicher Strukturen bedarf« (226 f.).
Das Ziel einer »organisatorischen Prägnanz« (110) wird dann den beiden anderen Dimensionen von Kirche zugeordnet, Institution (»allgemein gesellschaftliche, … kulturelle wie … individuelle Vorgaben«, die für die Kirche »unhintergehbar sind« [123], etwa die Volkskirche [106–108] und die Selbständigkeit des Glaubens [108]) und Interaktion (vor allem die »liturgisch konstituierte ›Gemeinde‹« [111]). Die Ausführungen zum Begriff der Inszenierung schließlich (116–122) thematisieren das, was man den religiösen Begriff der Kirche nennen könnte. Dabei inszenieren für H. letztlich alle Bereiche kirchlicher Ordnung und Leitung auf eine zeichenhafte Weise den Glauben: So eignet – unter Rekurs auf die 3. Barmer These (vgl. 117) – auch dem Kirchenrecht, der Kirchensteuer (vgl. 122) oder einzelnen Organen der Kirchenleitung über die Funktion der Bereitstellung eines »Rahmens« (118) für den christlichen Glauben hinaus »auch selbst eine ›bezeugende‹« (235), »theologische« (234) oder »religiöse Qualität« (239).
Der historische, zweite Teil skizziert in zwei Kapiteln Historische Organisationstypen (125–173) sowie Empirische Bestandsbedingungen (175–218) der Kirche. Kapitel 3 gibt dabei »einen historischen Längsschnitt einiger Organisationstypen« (125; Parochie, Landeskirche, Vereinskirche, Konventskirche und Funktionskirche), bevor »Strukturelle und normative Dimensionen der ›Gemeinde‹« skizziert werden. Kapitel 4 thematisiert die Frage kirchlicher Mitgliedschaft (175–206) und die Finanzen der Kirche (206–218).
Dem im engeren Sinne praktisch-theologischen Teil ist das Schlusskapitel gewidmet (219–301). Hier werden ›Aufgaben und Kriterien‹ der Kirchenleitung benannt, die H. im Durchgang durch eine Vielzahl solcher Leitungsorgane (Kirchliche Rechtsordnungen, Verwaltung und kollegiale Gremien, Synodale Gremien, Pastorales Amt, Episkopales Amt, Projekt- und Steuerungsgruppen) reflektiert. Nachdem eingangs die Trennung von »geistlicher Vollmacht und weltlichem Leitungshandeln« (223) kritisch reflektiert wurde (219–223), bilden Überlegungen zu einer »geistliche[n] Dimension kirchlicher Leitung« den Abschluss des Buches (299–301).
Die leitende These von H.s Kirchentheorie ist es, dass nur die kirchliche Organisation für die Erkennbarkeit und Anschlussfähigkeit des christlichen Glaubens sorgt. Bei ihrer Entfaltung wäre vielleicht zu überdenken, ob der Symbolisierungsleistung kirchlicher ›Ordnungen‹ tatsächlich selbst religiöse Qualität zukommt, immerhin denkt H. hier auch an Kirchensteuer (122) und das Ka­-sual- und Stellenbesetzungsrecht (119). Vielleicht wäre es sinnvoll, noch konsequenter zu unterscheiden, worauf die jeweiligen Symbolisierungen bezogen sind. So mag beispielsweise die Einschätzung, das Kirchenrecht trage »wesentlich zur öffentlichen Inszenierung des Glaubens bei« (229) zutreffen, damit ist es aber doch nicht selbst ›Inszenierung‹ des Glaubens, der als solche wo­möglich eine religiöse Dignität zukommen kann. Zudem scheint fraglich, ob die Ordnungen tatsächlich Ausdruck nicht nur des gottesdienstlich konstituierten kirchlichen Christentums sind, sondern auch dessen, was H. mit Schleiermacher als »christliches Ge­samtleben« und mit Troeltsch als »die vielfältige ›Welt des Chris­tentums‹« bezeichnet (118). Wenn dieses Christentum außerhalb der Kirche »weiter reicht als alle kirchlichen Sozialgestalten«, in­wiefern kann und sollte es dann doch an den spezifisch kirchlichen Sozialgestalten »zu symbolischer Darstellung kommen« (118)?
Ungeachtet dieser Rückfragen ist H.s Buch im Kontext der gegenwärtig vor allem auf Fragen der Kirchenreform konzentrierten Debatten (vgl. 13–16) als unaufgeregter Beitrag zu würdigen, dessen souveräner Darstellung man anmerkt, dass es auf längerer Lehr- und Forschungstätigkeit beruht. Besonders die Gliederung verdient Beachtung. Sie gewährleistet nicht nur eine kohärente Argumentation, sondern erprobt an einem konkreten Thema zu­gleich eine bestimmte Methodik für das Fach Praktische Theologie. Ingesamt bereichert H.s (leider nicht mit Register und Literaturverzeichnis ausgestattete) Kirchentheorie nicht nur die theologische Debatte, sondern empfiehlt sich auch als instruktives Lehrbuch für den akademischen Unterricht.