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Ausgabe:

März/2012

Spalte:

351–353

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Hiller, Doris

Titel/Untertitel:

Gottes Geschichte. Hermeneutische und theologische Reflexionen zum Geschehen der Gottesgeschichte, orientiert an der Erzählkonzeption Paul Ricœurs.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2009. XII, 410 S. 8°. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-7887-2375-0.

Rezensent:

Christina Costanza

Die 2011 von der theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum als Habilitation angenommene Arbeit verfolgt das von Doris Hiller gemeinsam mit ihrer akademischen Lehrerin Gunda Schneider-Flume betriebene Programm einer biblisch orientierten Dogmatik weiter, welche das Erzählen als Grundsprache des Glaubens reflektiert. Fokus der Arbeit ist der unhintergehbare »Ge­schichtsbezug des christlichen Glaubens« (1) und die Frage seiner theologischen Verantwortung.
Bereits in der Einleitung werden zwei mögliche Optionen solcher Geschichtstheologie vorgestellt: die universalgeschichtliche und die hermeneutische. Recht schnell wird deutlich, welche der beiden Optionen die Vfn. präferiert: Die in Kapitel I. ausführlich erläuterte Geschichtstheologie W. Pannenbergs wird im Anschluss an ihre theologische Rezeption besonders im Blick auf die Voraussetzung einer Einheit aller Geschichte und die Konzeption des in Christus vorweggenommenen Endes der Geschichte kritisiert. Demgegenüber meint die Vfn., die Offenheit der Geschichte auf Zukunft hin in einer hermeneutischen Perspektivierung gewahrt zu sehen.
Ihr Hauptgewährsmann für diesen Zugang – der gleichwohl den universalgeschichtlichen als »Herausforderung« (32.82.88 u. ö.) mitführen will – ist P. Ricœur. Dessen Denken wird in Kapitel II. in seiner Entwicklung nachgezeichnet, weil es »in der Kritik an idealistischen Einheitspostulaten ein Verstehen von Geschichte er­möglicht, das in der Orientierung am Sprachgeschehen des Er­zählens auf die Teilhabe am Geschehen, das Geschichte ist, gerichtet ist« (15). Das Hauptergebnis der Auseinandersetzung mit Ricœurs mimesistheoretischer Narratologie und ihrer »Verschränkung von Historie und Fiktion« (167) wird in der These zu sehen sein, »dass sich Geschichte nicht anders als in sich ereignenden Geschichten erfassen lässt, und dass zugleich die sich ereignenden Geschichten Geschichte herausbilden« (147). Geschichte wird dabei offen gehalten, indem sie als »Wirklichkeit im Horizont des Möglichen« (186 u. ö.) erzählt wird.
Den Ansätzen des Ricœurschen Denkens für die Geschichts­-theologie geht die Vfn. in Kapitel III. weiter nach: Die Imaginationskraft als »schöpferische[] Dimension der Sprache« (192) lässt Wirklichkeit neu beschreiben und so Gottes geschichtliches Handeln in Geschichten aufspüren. Erzählen ist somit »getragen … von der Überschusslogik Gottes, die … als das die Zeit unterbrechende und damit Geschichte neu interpretierende Mehr des Wirklichen er­scheint« (209). Geschichtstheologie versteht »Geschichte als An­bruch der Möglichkeit Gottes in der Wirklichkeit der Welt« (279 f.). Das den »Prozess des Imaginierens« (219) leitende Erinnern diskutiert Vfn. in der Gegenüberstellung von Ricœurs Gedächtnistheorie mit soziologischen Theorien des kollektiven bzw. kulturellen Gedächtnisses (M. Halbwachs, J. und A. Assmann). Sie konstatiert ein Defizit in der theologischen Auseinandersetzung um Erinnerung und Gedächtnis (vgl. 239–241), geht aber gleichwohl auf theologische Erinnerungstheorien (Ansätze bei K. Barth, R. Bohren; vor allem aber J. B. Metz, D. Ritschl) und die Betonung des Anamnesisgeschehens im Gottesdienst (G. Ebeling, G. Wenz, W. Pannenberg) ein.
In Kapitel IV. wird Ricœurs mimetische Konzeption der Ge­schichtshermeneutik christologisch ausgedeutet. Zentral ist das »hermeneutische Als« (290), welches »Wirklichkeit und Möglichkeit in der Weise [vermittelt], dass Geschichte als Vorstellung … von Vergangenem erscheint, die Gewesenes nicht feststellt, sondern als Vorübergehendes vergegenwärtigt« (293) – und zwar im Kerygma, das zwischen »Erinnern und Erzählen … den Raum des Geschichtlichen in der Deutung des Geschehenen« (304) schafft. Den »dogmatischen Kern theologischen Geschichtsverstehens« (308) wiederum bildet die »christologisch orientierte Mimesis« (335 u. ö.). Sie wird vor allem in Dialog mit E. Jüngels Erzählverständnis erörtert und fokussiert das theologische Verstehen von erzählter Gottesgeschichte auf ihre »Pointe«, nämlich das »Grundgeschehen von Kreuz und Auferstehung« (321). Dieses ist zugleich »das Thema, die Darstellung und [der] Verifikationsgrund der theologischen Tiefenstruktur von ›Geschichte‹« (322); oder auch: der »Text der Gottesgeschichte« (335). In diese wird der Mensch durch das unabgeschlossene Erzählen der betreffenden Geschichten mit hineingenommen, indem seine »Wirklichkeit auf Gottes Möglichkeit hin neu gedeutet« wird (351) – es zeigt sich die eigentlich durchgängige Nähe der Ausführungen zur Rezeptionsästhetik. Die Vfn. konkretisiert das »Verstehen von Geschichte in Geschichten« (359) in Auslegung der Emmauserzählung Lk 24,13–35.
Der Ertrag der Arbeit liegt laut Vfn. darin, dass die »theologische Tiefenstruktur« (7.88 u. ö.) der Geschichte zu begreifen ist, wenn »der Geschehenscharakter der sich vollziehenden Geschichte Gottes mit den Menschen« (19) hermeneutisch als Sprachgeschehen des Geschichtenerzählens gedeutet wird. Geschichten halten entgegen der Annahme eines vorweggenommenen Endes der Geschichte »das vergangene Ereignis auf Zukunft hin offen« (391). D. h. aber: »Gottes ›Geschichte‹ kann nicht anders als in den Geschichten des biblischen Glaubens erschlossen werden« (85), und zwar »im Gespräch zwischen einer hermeneutischen Erzähltheorie und der kerygmatischen Struktur des biblischen Erzählgeschehens« (390 f.).
Der vorgeschlagene »Perspektivwechsel vom universalen zum narrativen Denken als einem Verstehen von Geschichte in Ge­schichten« (91) bietet besonders im Blick auf eine vertiefte systematisch-theologische Rezeption des Denkens Ricœurs interessante Anknüpfungspunkte. Allerdings ist er in seiner zum Teil gewundenen und auch vom Inhaltsverzeichnis her unübersichtlichen Begründung nicht leicht nachvollziehbar (explizit sanktioniert durch Ricœurs eigene umweghafte Denkentwicklung; vgl. 188). Auch die gehäuft vorkommenden Abweichungen von der üblichen Kommasetzung erschweren den Gedankennachvollzug. Abschließend seien einige Fragen vermerkt, die weitergehender Reflexion bedürfen:
– Was bedeutet das Schlagwort »narrativ-argumentative Theologie« (254) genau? Die Ausführungen zum genuinen Ort des Geschichtenerzählens – dem Gottesdienst – klären nicht die Frage nach dem Sprachmodus einer sich wesentlich auf Erzählung beziehenden Theologie. Ist die Unterscheidung von Religion und Theologie noch gewollt, wenn in dem Versuch, die Erzählgemeinschaft des Glaubens direkt auf die Geschichtstheologie hin abzubilden, die abstrahierende Distanz der Theologie von der religiösen Sprache verloren zu gehen droht?
– Angesichts der Omnipräsenz der Kategorie des Erzählens fällt auf, dass keine sprachlogisch-deskriptive Definition dessen gegeben wird, was eine Erzählung (vor allem im Unterschied zum Bericht) ausmacht. So bezieht die Vfn. die Rede vom Narrativen zum Teil auf Bibeltexte, die nicht eindeutig als Erzählungen be­stimmbar sind (vgl. 195), und auch der Sprechort Gottesdienst lebt von weit mehr Sprachmodi als dem des Erzählens. Umgekehrt fragt sich: Haben Geschichten immer etwas mit Geschichte zu tun?
– In welchem wahrheitstheoretischen Sinn kann die Vfn. vom »konkreten geschichtlichen Ereignis« (308 u. ö.) reden, auf das sich jene Geschichten beziehen, in denen die Gottesgeschichte statthat? Die narrative »Verschränkung von Historie und Fiktion« (167) wird allenfalls auf der Seite des Fiktiven eingeholt; die Rechenschaft über die historische Wahrheit jener Geschichten allenfalls intern, im Zusammenhang der Erzählgemeinschaft, abgelegt. Pannenbergs Anliegen, über die universalgeschichtliche Vermittlung der Gottesgeschichte diese einer allgemeinen Vernunft plausibel zu machen, bleibt unberücksichtigt. Zudem fragt sich, ob die abgelehnte Perspektive auf das Ganze der Geschichte nicht auch in hermeneutischer Sicht mitzuführen ist, wenn Geschichte theologisch verstanden werden soll: als Gottesgeschichte, und damit von der sinnstiftenden Tiefe der vor Augen liegenden »Einzelereignisse« (189) her.