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Ausgabe:

März/2012

Spalte:

348–350

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Dalferth, Ingolf U.

Titel/Untertitel:

Umsonst. Eine Erinnerung an die kreative Passivität des Menschen.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XII, 245 S. 18,2 x 11,4 cm. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-16-150940-7.

Rezensent:

Ulrich H. J. Körtner

Umsonst: In sechs Fallstudien leuchtet Ingolf U. Dalferth die an­thropologische Bedeutung des reformatorischen sola gratia in seiner Verbindung mit dem sola fide aus. Man kann das Buch zugleich als Kompendium dalferthscher Theologie lesen, in welchem die wichtigsten Themen seiner jüngeren Veröffentlichungen in konzentrierter Form behandelt werden: der Mensch als Möglichkeitswesen, seine Geschöpflichkeit und seine Grundpassivität, die Rede von Gott dem Schöpfer, Theologie als Orientierungswissen, die Fundamentalunterscheidung zwischen Glaube und Unglaube und ihre erkenntnistheoretischen Konsequenzen, eine Theologie der Gabe anstelle des Opfers.
Im Gespräch mit Luther, Kant, Schiller, Lessing, Nietzsche, Marion, Derrida und Blumenberg formuliert D. pointierte Einsichten in »die Dativ-Struktur menschlicher Existenz« (113). Der negative Klang, den das Wort Passivität haben kann, schwindet, sobald man es positiv mit »Begabung« übersetzt. Eben als von Gott Begabter ist der Mensch kreativ passiv (vgl. 231 ff.). Er gewinnt Anteil an der Kreativität Gottes, die nicht etwa einen bestehenden Mangel beseitigt, sondern dem Menschen ungeahnte Möglichkeiten zuspielt.
Allerdings unterscheidet D. zwischen verschiedenen Passivitätserfahrungen. Neben der Passivität des Begabt- oder Beschenktwerdens steht die Passivität des Leidens, der Passion und der Ohnmacht (112). Auch bezogen auf Gott ist die Erfahrung von Passivität mehrdeutig. Gibt es einerseits die Passivität des geschöpflichen Werdens, so andererseits die Erfahrung, vom Zorn Gottes überwältigt zu werden (87).
D. versteht Gott als Inbegriff des Möglichen, wobei nicht die Unterscheidung zwischen Möglichem und Wirklichem, sondern diejenige zwischen Möglichem und Unmöglichem modallogisch grundlegend ist (5). Um den positiven Sinn geschöpflicher Passivität zu verdeutlichen, grenzt sich D. u. a. von Schleiermacher ab. Wer Religion lediglich als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit beschreibe, eröffne eine Interpretationskette, welche die Grundpassivität des Menschen einseitig unter ein negatives Vorzeichen stelle (116).
Demgegenüber entwirft D. eine Theologie der Gabe, die das Ge­spräch mit Luther (50 ff.), Marion und Derrida sucht (92 ff.). D.s glänzende Analysen zur Phänomenologie der Gabe bilden zusammen mit seiner Kritik am Gedanken des (göttlichen) Selbstopfers den Höhepunkt des Buches. Luzide arbeitet D. heraus, dass Gaben nicht als isolierte Phänomene wahrnehmbar sind. Vielmehr handelt es sich um hermeneutische Phänomene, die nicht mittels phänomenologischer Reduktion, sondern mittels hermeneutischer Interpretation zu erfassen sind (106). Die zentrale These lautet, dass Gaben deshalb hermeneutische Phänomene sind, »weil sie keine Gaben wären, wenn sie lebensweltlich nicht so verstanden werden könnten: für mich, aber weder von mir noch durch mich sind sie da« (105). Durch diese lebensweltliche Phänomenologie der Gabe werden auch das pro me und das extra nos reformatorischer Gnadenlehre neu erschlossen.
Folgt man seiner Theologie der Gabe, ist auch D.s in Auseinandersetzung mit F. Schiller formulierte Kritik am Opfergedanken konsequent. Der Tod Jesu ist demnach weder als Opfer noch als Selbstopfer zu verstehen, sondern als »das Resultat der Passion uneigennütziger Liebe« (137), die sowohl das Opfer anderer als auch Selbstopfer überwindet, indem sie auf Gewalt mit gewaltfreier Liebe statt mit Gewalt reagiert, selbst wenn der Preis dieser Liebe der Verlust des eigenen Lebens sein sollte. Die Menschwerdung Gottes aber interpretiert D. in Auseinandersetzung mit Blumenberg als »Inversion der Auferstehung« (166 ff.).
Im Zentrum dieses Buches steht der Schöpfungsgedanke. Theologie als »Neubeschreibung menschlichen Lebens, die sich nicht von selbst versteht« (128), zeigt auf, was es heißt, sich als Geschöpf zu verstehen und als Geschöpf zu leben. Auch die Fundamentalunterscheidung zwischen Glaube und Unglaube wird von D. vor al­lem schöpfungstheologisch gefasst. Dass in der Wiedergewinnung dieser Möglichkeit das Ziel des neutestamentlichen Erlösungsgeschehens liegt, ist gut paulinisch. Wer glaubt und in Chris­tus ist, ist ein neues Geschöpf, wie Paulus in 2Kor 5,17 schreibt.
D. möchte den Gedanken menschlicher Grundpassivität freilich nicht ontologisch unter Absehung von der Neuschöpfung verallgemeinern, wie er dies bei G. Ebeling zu beobachten meint (76). Über D.s Ebeling-Interpretation wäre gesondert zu diskutieren, ist doch auch für Ebeling alle Offenbarung wesenhaft soteriologisch. Während für ihn jedoch am Thema der Sünde das ganze Gewicht christlicher Rede von Gott dem Schöpfer und dem Menschen als seinem Geschöpf hängt – wobei Ebeling möglicherweise zu groß von der Sünde denkt –, möchte D. von ihr, gut barthianisch, vornehmlich im Modus ihrer Vergebung sprechen (vgl. 129). Besteht die Sünde aber wirklich nur darin, dass der Mensch in ihrem Zustand »weniger ist, als er sein könnte und vor seinem Schöpfer sein sollte« (55), und nicht vielmehr darin, dass er etwas ist, was er nicht sein sollte?
Allerdings verdient D. Zustimmung, wenn er die Sünde nicht lediglich als Negation oder als Mangel an Gutem (privatio boni), sondern, wie schon Kierkegaard, als Position, nämlich als aktiven Widerspruch gegen Gott und damit gegen die eigene Geschöpflichkeit interpretiert. Es ist nicht zuletzt dieses hamartiologische Motiv, weswegen D. gegen die Bestimmung des Menschen als Mängelwesen argumentiert. Aber wird nicht in der biblischen Tradition der Zustand der Sünde doch auch als Erfahrung des Mangels beschrieben, wenn es z. B. von den Gottlosen in Jes 48,22 u. 57,21 heißt, sie hätten keinen Frieden? Ist nicht das Evangelium von der überfließenden Gnade der Erkenntnisgrund, von dem aus der Sünder a posteriori sehr wohl als Mängelwesen beschrieben werden kann, wie es auch Luther zum Missfallen D.s tut (vgl. 86 ff.)?
Inwieweit der Mensch theologisch als Mängelwesen oder im Sinne D.s als Möglichkeitswesen zu verstehen ist, hängt nicht zuletzt davon ab, wie das Verhältnis zwischen Evangelium und Gesetz bestimmt wird. Erstaunlicherweise spielt die theologische Kategorie des Gesetzes in D.s Ausführungen keine tragende Rolle. Im Stichwortverzeichnis sucht man nach ihr vergebens.
Dennoch lässt sich aus diesem Buch auch für die kirchliche Praxis großer Nutzen ziehen. Noch immer begegnet man in Predigten einer fragwürdigen Apologetik, die auf die Anthropologie des Mängelwesens setzt. Längst setzt man in Pädagogik, Medizin und Pflege verstärkt auf ressourcenorientierte Modelle anstelle von defizitorientierten Modellen. Sie stehen allerdings in der Gefahr, jene kreative Passivität des Menschen zu verkennen, an die D. er­innert. Was aber in anthropologischer und theologischer Hinsicht doch auch zu bedenken ist, sind die Erfahrungen des Verlustes, des Verspielens von Möglichkeiten, der Brüche, des Abbruchs und des Scheiterns, kurz: Erfahrungen mit der Fragmenthaftigkeit menschlichen Lebens. Menschen werden von anderen in ihren Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten beschnitten oder dieser gänzlich beraubt. Das bleibt die particula veri der hamartiolo­gischen Bestimmung des Menschen als Mängelwesen, und die Frage lautet, wie der Mensch vom selbstverschuldeten Mängelwesen auf neue Weise zum Möglichkeitswesen werden kann. Insofern aber kann es keine christliche Schöpfungslehre unter Absehung von der Soteriologie geben.