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Ausgabe:

März/2012

Spalte:

345–348

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Dalferth, Ingolf U.

Titel/Untertitel:

Radikale Theologie.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2010. 282 S. 19,0 x 12,0 cm = Forum Theologische Literaturzeitung, 23. Kart. EUR 18,80. ISBN 978-3-374-02786-6.

Rezensent:

Reiner Marquard

Ingolf U. Dalferth ist evangelischer Theologe und Religionsphilosoph – und in diesen Professionszuschreibungen Direktor des In­stituts für Hermeneutik und Religionsphilosophie an der Universität Zürich; er gilt als methodischer Grenzgänger zwischen Analytischer Philosophie, Hermeneutik und Phänomenologie und ist ein ausgewiesener Experte in Fragestellungen der gegenwärtigen Religionsphilosophie und Orientierungsphilosophie.
Die hermeneutische Theologie des 20. Jh.s nahm sich ernst in ihrer Grundausrichtung aus ihrer Verwurzelung im christlichen Glauben. Ihre Pointe fand sie in einem »radikalen Orientierungswechsel vom Unglauben zum Glauben« (15), d. h. es ist nicht ihr Ziel, Phänomene dieser Welt so zu reflektieren, als ob aus dieser Reflexion Aussagen über Bedingungen einer möglichen Präsenz oder Abwesenheit Gottes ableitbar wären. Wenn Gott kein Integral der Welt ist, wie es unendliche viele Integrale gibt, dann lassen sich die Phänomene des Lebens und der Welt nur so theologisch zur Sprache bringen, als sie theologisch auf die einzigartige Präsenz Gottes bezogen erscheinen. Im Orientierungswechsel vom Un­glauben zum Glauben ändert sich radikal der Konstruktionspunkt, von dem her Aussagen zu Gott und zur Welt hin gemacht werden können, die eine wirkliche theologische Qualität haben. Die Radikalität dieses Wechsels liegt in ihrer »unerklärlichen Kontingenz« (16). Denn dass man vom Unglauben in den Glauben wechseln kann, beruht nicht auf einem biographischen oder ge­schichtlichen Entschluss der denkenden Akteure, sondern lässt sich nur (kontingent) im Widerfahrnis eines eschatologischen Er­eignisses darlegen. Dann aber geht es um Erneuerung und nicht nur um Veränderung, um Neuwerden und nicht um An­derswerden.
Eine radikale Theologie steht insofern in Opposition zu einem postmodernen Religionsverständnis, in dem sich der christliche Glaube pluralistisch und individualistisch »zum religiösen Ideen­ensemble« (178) ermäßigt. Vor dieser Sackgasse hatten bereits frühzeitig Heidegger und Bultmann gewarnt. D. warnt vor einer Religionshermeneutik, in der die Theologie nur mehr als Kombinat der Philosophie oder »als eine Version kulturwissenschaftlicher Be­schäftigung« (181) mit religiösen Phänomenen erscheint. Eine radikale Theologie reflektiert hingegen die »Gottesthematik« (ebd.)– ihre Hermeneutik ist insofern eine kritische Hermeneutik, die sich im Gegensatz zu einer Religionshermeneutik versteht, in der lediglich Transzendenzerfahrungen in theologischer Grammatik überhöht werden. Ein Echo verdoppelt jedoch lediglich das Original und bleibt als Echo dauerhaft angewiesen auf seine Vorgabe. Für eine radikale Theologie eine würdelose Vorstellung!
Wahrnehmen richtet das Augenmerk auf das, was wirklich ist. Verstehen ist interessiert an dem, was möglich ist. Wo das Verstehen nicht gelingen will, sucht die Hermeneutik Mittel und Wege eines verbesserten Verstehens. Es gibt kein Verstehen, ohne auf etwas Bestimmtes hin bereits orientiert zu sein. Das kann in die Irre führen. Kritische Hermeneutik bedenkt das interessegeleitete Verstehen. D. nennt das Vorverständnis die »Leitidee des Verstehens« (45). Die theologische Hermeneutik kreist um das »Verstehen des Ver­-stehens Gottes« (59.139). D. findet zu einer »Radikalen Theologie« im lohnenswerten Erinnern theologischer und philosophischer Denkansätze der Vergangenheit. In den 60er, 70er und 80er Jahren des vergangenen Jh.s hatte die hermeneutische Theologie Konjunktur. Er fragt, ob es Anlass und Gründe gibt anzunehmen, dass diese Vergangenheit eine Gegenwart hat, bzw. sogar eine Zukunft. Konkret geht es um die Frage, ob das, was sich aus der Bultmannschule in verschiedenen Traditionssträngen entwickelt hat, eine Fortsetzung verdient. In der aktuellen Auseinandersetzung jedenfalls (D. referiert die Studie von Otto Pöggeler zum Thema) wird das Niveau nicht gehalten, das die Debatte im vergangenen Jh. mit ihren Protagonisten gesetzt hatte. Deshalb richtet D. noch einmal den Blick zurück, »um die Kernansicht hermeneutischer Theologie kritisch aufzunehmen und konstruktiv weiterzudenken« (28). Die Problematiken hermeneutischer Denkmodelle werden idealtypisch an Rudolf Bultmann und Karl Barth diskutiert und in ihren Herkünften und Weiterführungen entfaltet (Martin Heidegger, Martin Luther, Gerhard Ebeling, Ernst Fuchs und Eberhard Jüngel, dem dieses Buch gewidmet ist). Die Auseinandersetzung mit »Bultmanns Glaubenstheologie« im Horizont des Selbstverstehens und »Barths Offenbarungstheologie« im Horizont des Schriftverstehens (219 ff.) führt beide scheinbar gegensätzlichen Entwürfe in die gleiche Aporie eines unversöhnlichen Ausgleichs von Offenbarungshandeln und menschlichem Leben.
Rudolf Bultmann reflektiert den sich verantwortenden Glauben nicht auf der Ebene des Offenbarungshandelns Gottes, sondern in der geschichtlichen Manifestation des Glaubens im Wechsel vom Unglauben zum Glauben. Manifestationen sind nicht einfach menschliche Antworten auf göttliche Anrede. Gottes Anrede an den Menschen geschieht zeichenhaft z. B. durch das Evangelium – aber auch dass und was der Mensch glaubt, bleibt ein Werk Gottes, auf das der Glaube sich bezieht. Die Manifestationen des Glaubens hingegen bleiben, was sie sind, Phänomene. Als solche sind sie vergleichbar und unterscheidbar zu anderen Phänomenen (z. B. des Unglaubens). Wie aber kommt die Differenz zustande? Es ist, als ob in einem dunklen Raum eine Kerze angezündet würde. Die Gegenstände vermehren oder verringern sich nicht; sie bleiben, was sie sind. Doch der Schein der Kerze rückt sie alle in ein anderes Licht. Die Phänomene werden durch den Glauben nicht vermehrt, sondern unter einer besonderen Perspektive angeschaut. Von dieser Perspektive ergibt sich aus einem »Entweder-Oder« die Notwendigkeit einer Entscheidung. Dieser Glaube manifestiert sich exis­tentiell und geschichtlich und kann theologisch reflektiert werden. Eine solche theologische Reflexion verfehlt jedoch ihr Thema, wenn sie nicht das mit bedenkt, was phänomenal nicht Thema ist: Gottes Heilshandeln. Die Verhältnisbestimmung von Glauben und Verstehen kann nur so funktionieren, dass das Verstehen zum Ausdruck bringt, was im Glauben geschieht. Theologische Arbeit ist bemüht um »das Verstehen des Verstehens Gottes und das Verstehen alles Übrigen im Licht dieses Verständnisses« (139).
Karl Barths Offenbarungstheologie verankert demgegenüber den Glauben ganz und gar in der Selbstoffenbarung Gottes in der soteriologischen Verschränkung »als Gottes Sein mit uns Menschen (Gottessohn) und als unser Sein mit Gott (Menschensohn)« (223). Die Theologie rekonstruiert dogmatisch, was das Christuszeugnis der Schrift der kirchlichen Verkündigung und der kirchlichen Lehre voraussetzt. Denken ist in diesem Modell im strengen Sinne Nachdenken, weil in dem Gott mit uns bereits alle Lebensphänomene mitgesetzt und bestimmt sind. Bei Bultmann bleibt das, was Gottes Handeln ist, unterbestimmt. Es wird sozusagen »unthematisch« (227) thematisiert, damit bleibt das Verstehen Gottes letztlich rückgebunden an die Entfaltung des menschlichen Sichverstehens. Bei Barth ist es geradezu umgekehrt. Weil bei ihm das Verstehen des Menschen gänzlich eingebettet ist in das göttliche Selbstverstehen, ist das menschliche Selbstverstehen geradezu entpflichtet. Da, wo Gott phänomenal wird, muss Barth zu einer dogmatischen Konstruktion greifen. Der Weg einer klaren phänomenologischen Betrachtung ist recht eigentlich verwehrt. Die Pneumatologie wird zur Statthalterin menschlichen Verstehens. – Ein monistischer Grundzug (138) bestimmt beide Theologien mit unterschiedlichen Verkürzungen und Ausgängen.
Für D. erweisen sich beide Entwürfe als ein notwendiges Durchgangsstadium zu einer »Ereignishermeneutik der anaphorisch-kataphorischen Struktur des Glaubens, die als explorative (erkundende) und imaginative (vorstellungsfähige) Hermeneutik der Selbstvergegenwärtigung Gottes im menschlichen Leben entwi­ckelt wird« (229). Er erinnert noch einmal an Bultmann, der den Bedeutungsschwerpunkt von der Heilsgeschichte auf das Existenz und Geschichte erhellende Heilsereignis des Kerygmas verlagert hatte. In seiner Schule haben Gerhard Ebeling und Ernst Fuchs das Heilsereignis als Sprachereignis/Wortgeschehen (83 ff.) bestimmt, da »wir immer schon in einer sprachlich erschlossenen und gedeuteten Welt leben« (230). Die Kommunikation des Glaubens fügt jedoch den Deutungswelten nicht noch weitere hinzu, sondern tritt in doppelter Absicht in die bestehenden (wirklichen) Deutungswelten ein, um »ihre bisherigen Orientierungen radikal zu problematisieren«, bzw. »in anderer Weise neu zu orientieren« (ebd.). Im Lichte Gottes geht es um eine radikal andere Sicht auf das menschliche Leben. Eine solche Sicht lässt sich nicht phänomenal, sondern eben anaphorisch-kataphorisch im »Handeln Gottes« verorten. D. fordert geradezu dazu auf, »den metaphorischen Charakter der Rede vom ›Handeln Gottes‹ ernst zu nehmen und diesen zum hermeneutischen Leitfaden des theologischen Denkens zu machen« (231). Phänomenal tritt diese theologische Deutung als eine »Lücke in Erscheinung« (232). Diese Lücke markiert den »Standpunkt und den Horizont«, von dem aus sich die erneuerte Sicht auf das Handeln Gottes erschließt. Die metaphorische Rede vom Handeln Gottes ist nicht deshalb radikale Theologie, weil sie neue Phänomene beschreibt, sondern weil sie die bekannten Phänomene neu beschreibt! Der Theologie kommen in dieser Sicht der Dinge andere Aufgabenstellungen zu als lediglich kulturelles Amalgam zu sein. Radikale Theologie nimmt teil am wissenschaftlichen Diskurs über das Verständnis der Welt. Sie bringt ihre besondere Perspektive ein, sie ist die Wissenschaft der Orientierungsunterscheidung.
Dieses Buch ist eine systematische Zusammenschau der theologischen und philosophischen Denkansätze der Hermeneutik des vergangenen Jh.s. Es ist aber auch und insbesondere ein Aufnehmen und Fortführen dieser Denkansätze in eine theologisch gepflegte Sprachlehre vom Nachdenken und Reden über das Verstehen Gottes. Im Verstehen des Verstehens Gottes eröffnet sich eine neue Perspektive für das Verstehen dessen, was möglich ist und was nicht möglich ist. Die Sprache von D. ist präzise. An ihr schult sich theologische Haltung. Die Lesereise geht – die Photographie der Titelseite zeigt einen einsameren Wanderer, der eine Anhöhe ersteigt – stetig bergauf. So wird der Leser am Ende mit einer Horizonterweiterung beschenkt.