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Ausgabe:

März/2012

Spalte:

343–345

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Busch Nielsen, Kirsten

Titel/Untertitel:

Die gebrochene Macht der Sünde. Der Beitrag Dietrich Bonhoeffers zur Hamartiologie.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2010. 408 S. 23,0 x 15,5 cm = Arbeiten zur Systematischen Theologie, 2. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-374-02795-8.

Rezensent:

Ralf Karolus Wüstenberg

Die wissenschaftliche Bonhoeffer-Forschung ist stets mit der Herausforderung konfrontiert, dass Dietrich Bonhoeffer kein »regulärer Dogmatiker« gewesen ist. Wo immer zu einem dogmatischen locus bei Bonhoeffer gearbeitet wird, kann man sich daher nicht auf einen Abschnitt einer Dogmatik beziehen und von hier aus – gleichsam als archimedischem Punkt – andere Schriften und Aussagen in den Blick nehmen. Vielmehr muss ein Thema quer durch das Œuvre verfolgt und dabei bedacht werden, dass die Begründungszusammenhänge mitunter variieren können (christologisch, schöpfungstheologisch etc.). So ist es auch beim dogmatischen Thema »Sünde« bei Bonhoeffer, das nach den Studien von Gottfried Claß (1991) und Gunter Prüller-Jagenteufel (2004) nun eindrucksvoll von der Kopenhagener Dogmatikerin und Bonhoeffer-Forscherin Kirsten Busch Nielsen bearbeitet wurde. Am Ende ihrer gut 400 Seiten umfassenden Studie benennt sie indirekt das geschilderte Problem, indem sie rückblickend auf ihre Analyse die drei unterschiedlichen, aber zusammenhängenden Aspekte von Bonhoeffers Sündenverständnis eingeht: »Durch die verschiedenen Zusammenhänge in ganz verschiedenen Schriften, in denen Bonhoeffer die Frage nach Sünde erörtert, kann man sagen, dass er Antworten auf drei Fragen gibt: ›Was?‹, ›Wer?‹ und, um es so zu sagen, ›Wo?‹. Was ist Sünde? Wer ist Sünder? Wo verläuft die Grenze zwischen Sünde und dem Bösen?« (373)
Die drei Leitfragen signalisieren zugleich die Inhalte der großen Hauptkapitel, nämlich »Peccatum – was ist Sünde« (87–227); »Peccator – Der sündige Mensch« (229–290) und »Malum – Die Sünde, das Böse und Gott« (293–362). Weiter deuten sie unter dem Stichwort »Grenze« eine zentrale Leitkategorie in Bonhoeffers Sündenverständnis an, die von der Vfn. einleitend dargelegt (31–81) und im Rückblick (363–388) systematisch mit ihrer Leitthese verbunden wird: »Einerseits versteht Bonhoeffer die Sünde als die Überschreitung einer Grenze durch den Menschen, nämlich von der Grenze, die Christus durch Inkarnation, Kreuzestod und Auferstehung für den Menschen und die Welt ausmacht. Diese Grenzüberschreitung hat eine Reihe von konkreten Ausdrücken. In dogmatischer Terminologie ist deren primäre Erscheinungsform Unglaube. Andere Erscheinungsformen, d. h. andere konkrete Definitionen von Sünde sind Ungehorsam, Gesetzesübertretung, Selbstrechtfertigung, Götzendienst, Gottlosigkeit und Verkehrtheit. Andererseits bekommt es für dieses Verständnis von Sünde eine entscheidende Bedeutung, dass Bonhoeffer auf diese Weise das Verhältnis zwischen Gott und Mensch daraus betrachtet, was Christus für Mensch und Welt getan hat. Es gibt Bonhoeffer zufolge eine Grenze zwischen Gott und dem sündigen Menschen. Aber diese Grenze wurde überschritten und von Gott in der Versöhnung durchbrochen, und die Sünde muss in dieser Perspektive gesehen werden.« (373) Daher erklärt sich die mit dem Buchtitel verbundene und von der Vfn. mit großer systematischer Kraft eindrucksvoll vertretene These von der Sünde als einer gebrochenen Macht.
Zunächst wird die »grenzenlose Versöhnung« als grenzüberschreitendes Versöhnungshandeln Gottes dem sündigen (Grenzen überschreitenden) Menschen gegenüber diskutiert, also die Sündenlehre (»Sünde als Grenze«, 32–48, bzw. eigentlich »Grenzüberschreitung«, bes. 47) im Licht der Erlösungslehre (»Die Grenze der Sünde«, 49–85) erörtert. Dabei geht die Vfn. auf alle Schriften und Bezüge Bonhoeffers ein, die sachlich in einer an die Allversöhnung erinnernde christologische Passage aus der Ethik Bonhoeffer münden: »Nun gibt es keine Wirklichkeit, keine Welt mehr, die nicht mit Gott versöhnt und in Frieden wäre. Das tat Gott in seinem lieben Sohn Jesus Christus« (aus Ethik als Gestaltung, 57). Wenn von der Grenzüberschreitung Gottes im versöhnenden Handeln Jesu Christi in der Theologie Dietrich Bonhoeffers gesprochen wird, dann darf ein zentraler Terminus nicht fehlen, nämlich »Stellvertretung – ein theologischer Grenzbegriff« (59 ff.). Grenze sei etwa im Blick auf Bonhoeffers Christologievorlesung mitgedacht, weil »Stellvertretung« sich »grenzüberschreitend zwischen denen ab­spielt, die in der Stellvertretung involviert sind« (62). Christus steht dort, »wo ich stehen sollte, was gleichzeitig die Grenze meiner Exis­tenz bedeutet« (63). Im Hinblick auf Widerstand und Ergebung– etwa die berühmte Wendung »Vor und mit Gott leben wir ohne Gott« interpretierend – kann die Vfn. dann sogar eine »umgekehrte Stellvertretung« ausmachen. »Gott lässt sich verdrängen, wo er sein sollte, und der Mensch steht an dieser Stelle« (75).
Eine doppelte Bestimmung von Sünde hält die Vfn. nach einer Analyse der Erscheinungsformen von Sünde bei Bonhoeffer in den differenzierten materialdogmatischen Teilen ihrer Untersuchung fest: »Teils sieht er Sünde als Überschreiten einer Grenze, nämlich der Grenze, die Christus für den Menschen und die Welt ausmacht. Teils betont er, dass die Sünde mit Gottes Versöhnung der Menschen und der Welt mit sich selbst in Christus ihre Grenze erreicht hat.« (179) Die von der Vfn. im Werk Bonhoeffers identifizierten Erscheinungsformen von Sünde (wie u. a. Unglaube, Ungehorsam, Gesetzesübertretung oder Selbstrechtfertigung) seien »konkrete Beispiele für die generelle Bestimmung von Sünde, nämlich, dass der Mensch eine Grenze überschreitet« (173). Diese Einsichten werden schließlich rezeptionsgeschichtlich auf dem Hintergrund der Sündenlehren Luthers und Barths diskutiert. Nach überzeugender Auffassung der Vfn. folgt Bonhoeffer insofern Barth und Luther, als er zum einen »Sünde als Unglaube« versteht; des Weiteren wird die Begrenztheit von Sünde in der Gotteslehre begründet und soteriologisch wie christologisch entfaltet (vgl. 224 f.).
Die Diskussion der zweiten Bestimmung von Sünde, nämlich dass die Sünde in Gottes Versöhnung in Christus selbst ihre Grenze erreicht hat, führt die Vfn. – unter Aufnahme ihrer Grund­gedanken zur »Stellvertretung« u. a. zu der Frage der Sündenerkenntnis bzw. der Frage nach der Reihung von Versöhnungs- und Sündenlehre. Dabei wird als zentrales Motiv der Glaube als Vor­aussetzung der Sündenerkenntnis herausgearbeitet. Den Satz Bonhoeffers aus dem Jahr 1930/31 »Ich glaube, daß ich Sünder bin«, interpretiert die Vfn.: »Nur aus einem christologisch-soteriologischen Blickwinkel ist es Bonhoeffer zufolge … möglich, sich dem Sündenbegriff zu nähern, und dessen Inhalt aufzudecken« (264). Dass mit der Versöhnung Gottes in Christus die Grenze für die Sünde gesetzt wurde, bedeutet im Licht der Sündenerkenntnis, »dass die Sünde nur erkannt wird, wenn sie in Christus angesehen wird, in dem sie überwunden ist« (292). Am Schluss diskutiert die Vfn. wieder äußerst gründlich und differenziert, wie Bonhoeffer über die klassischen Versöhnungskonzeptionen hinausgeht, indem er als mo­derner Theologe Fragen nach dem Bösen, der Gottlosigkeit und Mündigkeit in seine Sündenkonzeption integriert.
Insgesamt liegt die große Stärke des Buches in der begrifflichen und inhaltlichen Präzision sowohl in der Analyse der Bonhoeffer-Quellen als auch in der Diskussion der Sekundärliteratur – in den Rezeptionskapiteln zu Luther und Barth auch noch jene mit einbeziehend. Das wird der Studie gewiss einen bleibenden Stellenwert in der wissenschaftlichen Bonhoeffer-Forschung sichern. Wünschenswert für die breitere Bonhoeffer-Rezeption wäre ein zweites Buch der Vfn., in dem – entlastet um viele Querverweise und manche überladenen Schachtelsätze – die These von der gebrochenen Macht der Sünde und die wichtigen Ergebnisse gebündelt sowie sprachlich vereinfacht einem erweiterten Kreis zugänglich ge­macht würden.