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Ausgabe:

März/2012

Spalte:

341–343

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Wuchterl, Kurt

Titel/Untertitel:

Kontingenz oder das Andere der Vernunft. Zum Verhältnis von Philosophie, Naturwissenschaft und Religion.

Verlag:

Stuttgart: Steiner 2011. 300 S. 22,3 x 14,5 cm. Geb. EUR 29,00. ISBN 978-3-515-09857-1.

Rezensent:

Hans-Dieter Mutschler

Religionsphilosophien nehmen gerne ihren Ausgangspunkt in einem affirmativen Sinn bei der Erfahrung verschiedener Lebensbereiche und versuchen von dort aus, die Existenz Gottes mit Vernunftgründen plausibel zu machen. Der Ansatz von Kurt Wuchterl, apl. Professor für Philosophie an der Universität Stuttgart, unterscheidet sich davon prinzipiell. In ihm steht die Kontingenz im Mittelpunkt, also gerade nicht die Erfüllung, sondern das Scheitern der Vernunft. Erst wo die Vernunft durch die unableitbare Faktizität (sei es als Glücks- oder Unfall) aus ihrer wissenschaftlichen oder philosophischen Selbstsicherheit, alles einzuordnen, herausgerissen wird, kann ein Anderes der Vernunft in den Blick kommen, das dem Satz vom zureichenden Grund nicht mehr genügt. Dieser Ansatz ist eine in die Philosophie transponierte negative Theologie. Philosophisch ist er dennoch, insofern Vernunft auch an dieser Grenze nicht einfach nur kapituliert, sondern das Register wechselt: Ihre Rede wird metaphorisch.
Es scheint nun unangemessen in einer so kurzen Rezension einen Eindruck von der Fülle der Detailinterpretationen W.s zu geben, die einen enormen Erstreckungsbereich hat: von Physik und Biologie zu Husserl, Heidegger, Derrida, Lyotard, Blumenberg, Wittgenstein und seinen Nachfolgern bis in die neueste Literatur, nicht zu vergessen die Theologie. Meist geht es ihm darum zu zeigen, wie Wissenschaft und Philosophie eine ständige Neigung haben, Kontingenz, als das Einfallstor des Absoluten, zum Verschwinden zu bringen. Angesichts der Reichhaltigkeit des Buches möge hier in ungebührlicher Verkürzung sein Aufbau folgen. Es ist eingeteilt in drei Kapitel: A) Reflexion auf die Grundlagen, B) Kontingenzbewältigungen, C) Kontingenzbegegnungen. An sich schiebt sich zwischen B) und C) noch die Kontingenzanerkennung ein, die kein eigenes Kapitel ausmacht, aber nötig ist, um die Illusion eines geschlossenen Bereichs A) aufzuheben.
In A) geht es zunächst darum, den Kontingenzbegriff zu klären und gegenüber alternativen Deutungen, wie bei Dalferth/Stoellger, Dekker, Luhmann, Lübbe usw. zu verteidigen, insofern diese Autoren zu stark theologisch abhängig sind, den Kontingenzbegriff durch Universalisierung trivialisieren oder ästhetisierend bagatellisieren oder wie bei Esterbauer den Zufall optimistisch = Glücksfall setzen.
Teil B) handelt zunächst über Kontingenzbewältigungen in der Naturwissenschaft, die darauf hinauslaufen, Natur als Reich der geschlossenen Selbstorganisation zu interpretieren, indem alles auf Naturgesetze zurückgeführt wird, die als notwendig verstanden werden. Dies sei eine illegitime dogmatische Extrapolation naturwissenschaftlicher Ergebnisse, die wie bei Stephen Hawking einen neuen »Mythos« erzeugten. Die Kontingenz der Naturwissenschaft zeige sich vor allem in ihrem geschichtlichen Charakter, denn sie sei aufgrund zufälliger metaphysischer Optionen in der Renaissance so entstanden, wie sie jetzt geworden ist.
Ein anderer Versuch der Kontingenzbewältigung sei die »Autonomie der Vernunft«, die letztlich von den alten »grossen Erzählungen« zehre und deren letzte Formen die Phänomenologie Husserls und die Analytische Philosophie seien. Bezüglich Husserls Letztbegründungsversuchen mag man das einsehen, bezüglich der Analytischen Philosophie ist dieses Urteil etwas erstaunlich, aber W. verweist darauf, dass es in dieser Richtung keine allgemein akzeptierte Methode gebe und dass die behaupteten logischen Notwendigkeiten kaum existierten.
In C) geht es um Kontingenzbegegnungen. »Kontingenzbegegnung bedeutet die Anerkennung des sich selbst enthüllenden Anderen der Vernunft. Die unter dem ontischen Vorbehalt artikulierten Inhalte dieser Selbstgabe des Anderen sind Manifestationen des Religiösen.« (166) »Ontischer Vorbehalt« heißt: Vom ganz Anderen geht zwar eine Wirkung aus, aber diese ist nicht ontologisch fassbar. Es gibt keine religiöse Kontingenzbewältigung. Dieses Kapitel C) ist außerordentlich dicht und man muss die verästelten Interpretationen schon selbst und genau verfolgen, um einen Eindruck von der souveränen Kenntnis W.s zu erhalten.
Er verfolgt z. B. »Das Sprechen vom Unsagbaren in der Philosophie« bei Heidegger, Wittgenstein, Lyotard, Vattimo, Derrida, Blumenberg, Habermas usw. Mit Ausnahme von Wittgenstein scheint es meist so, dass die Kontingenzbegegnung von solchen Autoren an den Rand geschoben wird. Z. B. verbleibe bei Heidegger die Kontingenzanerkennung im Bereich der reinen Faktizität, hinter der sich nichts verbirgt (»Das Nichts nichtet«). Heidegger müsse zu diesem Zweck Widersprüche ignorieren oder sie unter Berufung auf höhere Einsichten als Wahrheit verkaufen. Anders bei Wittgenstein. In Bezug auf ihn wurde das Unsagbare in der Analytischen Philosophie minimalisiert, während Wittgenstein selbst längst zur Kontingenzanerkennung übergegangen sei.
Blumenberg wird ausführlich behandelt. Er distanziert sich sowohl von der Theologie als auch von der Naturwissenschaft und spricht von einem alternativlosen »Absolutismus der Wirklichkeit« (224), die auf eine Sinnlosigkeit des Wirklichen hinausläuft. Im Grunde sei Blumenberg ein Naturalist, der einfach nur die Selbstorganisation der Natur akzeptiere, während die Hinwendung von Habermas zur Religion nicht etwa ernstlich das Andere der Vernunft betreffe. Sie bleibe rein immanent.
Um das Unsagbare auszudrücken und um einen Rest Rationalität zu bewahren, solle man zur Metapher greifen. W. bespricht und kritisiert verschiedene Metapherntheorien. Er ist vor allem an der »absoluten Metapher« interessiert, d. h. an einer solchen, die nicht in Wissenschaft oder Philosophie aufgelöst werden kann. Sie bringt sein durchgängiges Anliegen einer theologia negativa zur Geltung.
Am Ende seiner Untersuchung spricht W. noch, wenn auch sehr kurz, über Lévinas, in dessen Ethik eine »immanente Transzendenz« zum Ausdruck komme, denn: »Im Antlitz ereignet sich die ›Epiphanie‹ des Anderen.« (279) Es ist nicht leicht zu sehen, wie sich Lévinas’ Ausgangspunkt bei einem affirmativ zu fassenden Weltinhalt zu dem Ansatz bei der Kontingenz verhält. Aber das könnte der Kürze des Referats geschuldet sein, was wohl auch für die Ausführungen über Kierkegaard gilt, für den gerade mal drei Seiten reichen müssen. Kierkegaard ist vermutlich das beste Beispiel für W.s These, vor allem in Bezug auf seine Auseinandersetzung mit Hegel, die hier offenbar aus Platzgründen entfallen musste. Es gibt eben Bücher, die dürften ruhig etwas dicker sein (öfters noch im Gegenteil), aber das verdankt sich meist editorischen Zwängen.
W. orientiert sich in seinen Ausführungen stark an Wittgenstein, der uns empfahl, über das zu schweigen, worüber wir nicht reden können, woran er sich aber selbst nicht hielt. Obwohl W. die Erfahrung der Transzendenz aus dem kategorialen Schema herausnimmt, spricht er diesbezüglich dennoch von »Wahrheit« oder davon, dass das nicht mehr Sagbare auf uns »wirkt«. Können wir Kausalität außerhalb eines kategorialen Rahmens denken und ist Wahrheit außerhalb der Begründungsleistungen von Vernunft überhaupt noch definiert und müssten wir dann nicht die Schwebe der »absoluten Metapher« zugunsten des Begriffs wieder aufgeben, also die zu Beginn erwähnte Affirmation nicht vielleicht doch etwas ernster nehmen?