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Ausgabe:

März/2012

Spalte:

339–341

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schröder, Winfried

Titel/Untertitel:

Athen und Jerusalem. Die philosophische Kritik am Christentum in Antike und Neuzeit.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2011. VII, 291 S. 21,9 x 17,0 cm = Quaestiones, 16. Lw. EUR 68,00. ISBN 978-3-7728-2567-5.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

»Die Synthese aus antiker Philosophie und Christentum gilt seit jeher als eine identitätsstiftende Besonderheit der westlichen Kultur.« (1) Mit diesem Satz beginnt der Marburger Philosophiehistoriker Winfried Schröder seine sehr sorgfältige Infragestellung dieser These. Erstmals haben die spätantiken, hochreflektierten, platonisch orientierten, aber gegenwärtig kaum präsenten Philosophen Kelsos, Porphyrios und Flavius Claudius Iulianus, besser als Julian Apostata bekannt, die Unverträglichkeit von Philosophie und Theologie herausgestellt. Von ihnen sind umfangreiche Textstücke erhalten, trotz des Vernichtungserlasses antichristlicher Schriften durch Kaiser Konstantin im Jahr 324. Außerdem sind diese Texte in der Spätrenaissance und Aufklärung rezipiert worden (Kapitel II). Die moderne Bibelkritik hat also von den Argumenten der Spätantike wichtige Anstöße erfahren (Kapitel III). Die Dissense von Philosophie und Theologie stellt S. an den Theologumena der Wahrheit des Glaubens, der Realität der Wunder und des Problems gerechten Handelns dar (Kapitel IV). Abschließend wird die abendländische Synthese reflektiert (Kapitel V). Eine ausführliche Bibliographie und umfassende Register beschließen den Band.
S. zeichnet die spannende Geschichte der Editionen bzw. Fragmentsammlungen nach, durch die die antike Christentumskritik der Neuzeit, beginnend mit Jean Bodin, präsent wurde. In der Aufklärung war die Rezeption wegen des von den Philosophen vertretenen Platonismus zunächst erschwert. Eine genaue Lektüre jedoch ergab, dass die antiken Philosophen weder eine Idolatrie noch einen Polytheismus, sondern einen Monotheismus vertraten, wie Hermann Samuel Reimarus erkannte. Auch wurde Porphyrius’ unabhängige Haltung zur Religion festgestellt, wie Julians allegorische Exegese, die sich somit vom literalen christlichen Verständnis biblischer Wundergeschichten unterschied. Damit wurden die spätantiken Philosophen zwar keine Aufklärer im Sinn des 18. Jh.s, konnten aber nicht mehr als dogmatische Platoniker etikettiert werden. Als Beispiel für die Wirkung der Relektüre der antiken Philosophen kann die Erschütterung des als sehr sicher geltenden Beweises von der Erfüllung der alttestamentlichen Weissagungen im Neuen Tes­tament, durch den göttlichen Ursprung der Bibel apologetisch abgesichert, gelten: »Die Kommentare von Kelsos, Porphyrios und Julian haben nicht wenigen neuzeitlichen Bibellesern die Augen für die Willkür und Gewaltsamkeit geöffnet, mit der christliche Exegeten sich der Tora bemächtigten, um die Messianität Jesu zu beweisen.« (81) Damit ist eine tragende Säule des Wahrheitsanspruches des Christentums weggebrochen. Ferner wehren die antiken Philosophen »die Bedrohung der politischen und rechtlichen Ordnung durch die neue Religion« ab, da sie sie als Angriff auf die »integrative Kraft der römischen Kultur« (85) auffassen.
Die Fragen der religiösen Wahrheitsansprüche, der Wunderdis­kussion und der christlichen Moralvorstellung untersucht S. im vierten Kapitel, dem Hauptkapitel, sehr diffizil. Zum Glauben fasst er zusammen: »Ein neuzeitlicher Leser, der den Irrationalismusvorwurf der drei Heiden anhand der patristischen Quellen überprüfte, konnte dort Material in Fülle finden, das ihn untermauerte …, dass die Christen sich den von den Philosophen anerkannten und auch im antiken common sense verankerten Standards der Prüfung und der Rechtfertigung von Überzeugungen tatsächlich entzogen oder ihnen nur unzureichend genügten.« (107) So tritt an die Stelle der antiken »Wertschätzung« (125) anderer Religionen die »Überzeugung des durch die göttliche Offenbarung geschenkten exklusiven Wahrheitsbesitzes« (127) der Christen. Gegen die religiöse Intoleranz setzt die deistische Rezeption der spätantiken Platoniker die Religions- und Denkfreiheit.
Die Realität der Wunder zur Beglaubigung Jesu war durch Joh 15,24 für das Christentum grundlegend und galt durch seine Auferstehung als Erweis seiner Gottessohnschaft und der Wahrheit des Christentums. Die spätantiken Philosophen vertraten zwar einen Wunderbegriff, aber er verletzte nicht die naturgesetzliche Ordnung. So konnten sie »die mangelnde Stimmigkeit der biblischen Erzählungen« (155) aufzeigen und entwerteten den Wunderbeweis einmal durch den Vergleich mit anderen Religionen und dann durch den Hinweis auf Mt 24,24. Außerdem waren die Wunder weder neutral noch mehrfach verbürgt, so dass ihre Glaubwürdigkeit in der Spätantike und Aufklärung »als willkürlich gebrandmarkt« (170) werden konnte. Folglich weist das Theologumenon von der Auferstehung Jesu keine Stichhaltigkeit mehr auf. Kelsos, Porphyrios und Julian haben das Neue der christlichen Moral erkannt: zum einen »die Zuspitzung geläufiger moralischer Normen und Ideale« und zum anderen »die Neubewertung der aktiven Bemühungen um eine moralische Lebensführung« (196) durch die paulinische Rechtfertigungslehre. Diese Lehre von der Wertlosigkeit der moralischen Bemühungen und der Gerechtigkeit als freien Gnade Gottes wich vom common sense der antiken Philosophie ab und wurde auch von den neuzeitlichen Kritikern negativ eingeschätzt.
Das Christentum hat also durch seine Lehren von Glauben, Auferstehung und Rechtfertigung zu starken Zäsuren im abendländischen Welt- und Moralverständnis geführt. Gleichzeitig hat es »dem Erbe der antiken Philosophie dauerhaft einen Platz in den von ihr geprägten Kulturen gesichert« (229) und mit ihrer Hilfe auch eigene Lehrinhalte ausgebildet, wie etwa die Christologie oder die Trinitätslehre. Abschließend bleibt die Frage: Wenn die Theologie die Kernelemente von Glauben, Auferstehung und Rechtfertigung der Kritik gemäß umformte, ob dann noch zu verstehen wäre, worin »das christliche Profil« einer »transformierten Theologie« bestehen könnte (229). Damit, so denke ich, ist eine herausfordernde Aufgabe für die gegenwärtige Theologie benannt.