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Ausgabe:

März/2012

Spalte:

334–337

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Bormuth, Matthias

Titel/Untertitel:

Ambivalenz der Freiheit. Suizidales Denken im 20. Jahrhundert.

Verlag:

Göttingen: Wallstein 2008. 478 S. 22,8 x 15,0 cm. Geb. EUR 39,90. ISBN 978-3-8353-0338-6.

Rezensent:

Michael Coors

Die überarbeitete Fassung der in Tübingen eingereichten Habilitationsschrift von Matthias Bormuth besticht durch umfassende Kenntnis der Literatur und der ideengeschichtlichen Entwicklung sowie durch ein hohes Maß an analytischer Präzision. B. geht dem Charakter suizidalen Denkens in drei unterschiedlichen, einander überschneidenden Konstellationen nach: Philosophisch nimmt er einen langen ideengeschichtlichen Anlauf und stellt die Entwick­lung der Wertung des Suizids von Antike und alter Kirche ausgehend dar, um die Diskussion im 20. Jh. zu kontextualisieren. Dabei überlappt sich die philosophische Konstellation im 20. Jh. deutlich mit der (soziologisch-)psychiatrischen Konstellation. Das Hauptgewicht der Arbeit liegt dann vor allem in der dritten, der literarischen Konstellation, die gezielt Texte zum Thema der Suizidalität bei suizidalen Literaten aufsucht.
Am Anfang aber steht die Auseinandersetzung mit der philosophischen Konstellation. Hier stellt B. schon im Blick auf die Antike und Augustin Wichtiges klar: Das Verbot des Suizids bei Augustin steht in Kontinuität zur antiken philosophischen Wertung des Suizids als Verbrechen an der Gemeinschaft (27). Auch wenn die stoische Wertung des Suizids als heroischer Akt in der Gegenwart die Wahrnehmung der Antike dominiert, ist sie doch historisch eher die Ausnahme denn die Regel. Augustin allerdings kann die gesellschaftliche Verpflichtung von der Stellung des Einzelnen im Ge­genüber zu Gott her relativieren: Der Einzelne hat »mehr seinem Gewissen vor Gott zu gehorchen als dem gesellschaftlichen Urteil« (27.30). Das starke Selbstmordverbot bei Augustin verordnet B. mit guten Argumenten im Kontext der apologetischen Situation von Augustins De Civitate Dei: Es ist Antwort auf »die konkrete Unterstellung, in feiger Weltflucht das böse Schicksal der Stadt [Rom] gefördert zu haben« (31). Dieses Verbot des Suizids wurde dann historisch wirkmächtig, nicht nur in der kirchlichen Ächtung, sondern auch in der philosophischen wie aufklärerischen Ablehnung des Selbstmordes bei Kant oder in der französischen Aufklärung.
Zu einem Thema, das Philosophie, Psychotherapie und Literatur in großer Breite beschäftigte, wurde der Suizid aber erst um die Wende vom 19. zum 20. Jh., und zwar unter dem Vorzeichen des Begriffs der Krise: Suizidales Denken im 20. Jh. beginnt mit der Thematisierung des Suizids »als modernes Krisenphänomen« (63) bei Weber, James und vor allem in Durkheims Abhandlung Le suicide, die das Phänomen des Suizids aus der »Erosion der institutionellen Rollenmuster« (72) in der Gesellschaft ableitet und darum im Suizid vor allem ein gesellschaftspolitisches Problem sieht. Von Durk­heims soziologischer Studie ausgehend entfaltet B. die Linie einer vermeintlich objektiven psychiatrischen Pathologisierung des Suizids bei R. Gaup, an den K. Jaspers in seinen frühen psychotherapeutischen Schriften im Kontext der Heidelberger Schule kritisch anknüpft. Jaspers wendet sich »gegen die pathologisierende Tendenz, den individuellen Freiheitsraum unter der Diagnose der ›Psychotherapie‹ zu minimieren« (87). Am Begriff der »Persönlichkeitsstörung« macht sich dabei im psychotherapeutischen Diskurs die kontrovers diskutierte Problematik der Kontextabhängigkeit psychiatrischer Diagnosen fest (89 ff.), die für Jaspers darauf verweist, »dass das naturwissenschaftliche Denken der geistes- und kulturwissenschaftlichen Ergänzung bedarf« (91). Im Kern geht es immer wieder um die Frage, wie die negative Selbsteinschätzung des Suizidenten zu bewerten ist: als passageres Phänomen der Selbsttäuschung oder als Äußerung eines authentischen Selbst? Im Konflikt der psychiatrischen Deutungen geht es vor allem um die Frage, inwieweit die Psychotherapie die Hoheit über diese Deutung hat und inwieweit sie eine illegitime Fremdbestimmung des Suizidenten ist. Dieser Kernfrage nach der Freiheit im Suizid geht Jaspers als Philosoph weiter nach und zieht dabei eine klare Grenze für die Verantwortung des Arztes, der als »möglicher ›Schicksalsgefährte‹ nicht die letzte Verantwortung für die persönliche Wertentscheidung übernehmen kann« (108). Bei Jaspers ist hier eine tiefe Ambivalenz der Freiheit im Blick: Der Selbstmord ist eine nicht auszuschließende und im Grenzfall nicht zu pathologisierende Möglichkeit der menschlichen Freiheit, aber er bleibt für Jaspers, so B., bei aller Achtung auch mit einem Schaudern belegt. Die Dynamik der Aufhebung dieser Ambivalenz in der Moderne skizziert B. anhand einer pathographischen Deutung der Philosophie Nietzsches: Nietzsches philosophisches Denken, das anfangs den Suizid durchaus ambivalent bewertete, kippe in Folge seiner eigenen psychischen Erkrankung in einen ohne alle Ambivalenz vertretenen Standpunkt expansiver Freiheit (126). In dieser pathographischen Verschränkung der Interpretation des Werkes im Horizont des biographischen pathein liegt die eigentliche methodische Pointe der Arbeit von B., die er im Rückgriff auf E. Auerbachs Konzept einer historisch-transdisziplinären Hermeneutik begründet, mit dem Ziel, dem »historisch wandelbaren und biographisch bestimmten Standort des Verstehens« (175) ein größeres Gewicht zu geben. Diese Methode macht die eigentliche Stärke, aber eben auch die Angreifbarkeit der Interpretationen von B. aus. Denn hier wiederholt sich auf einer anderen Ebene das Problem der Abgrenzung von Genese und Geltung: Geht es auf der Sachebene um die Frage, inwieweit eine psychopathologische Genese des Entschlusses zum Suizid die Geltung der Freiheit einschränkt, so lässt sie auf der methodischen Ebene jeweils im Detail der Interpretationen fragen, inwieweit die psychopathologische Genese des philosophischen oder literarischen Werkes dessen Geltungsanspruch tangiert. Diesem methodischen Zugang entspricht es andererseits, dass B. nachweisen kann, dass bei W. Kamlah Suizidalität in den Horizont eines säkularisierten christlichen Passionsmotivs tritt (139 f.): Die Freiheit zum Suizid ist keine reine intelligible, sondern sie kann die Gestalt einer passionsmotivlichen Deutung des eigenen Lebens und Leidens gewinnen. Im Thema des Suizids verschränkt sich darum Leben und Denken auf besondere Weise. Die Pointe dieser Arbeit liegt also darin, nicht einfach von der Suizidalität, sondern vom suizidalen Denken auszugehen!
Aus dieser Perspektive widmet sich B. im größten Teil seiner Arbeit der Analyse literarischer Texte von I. Bachmann, U. Johnson und J. Améry, in denen jeweils biographische Suizidalität, erzählte Passion der Charaktere und ethische Wertungen ineinander übergehen. Aufgrund des weit reichenden Einflusses von Amérys Leben und Werk setzt B. sich mit ihm besonders intensiv auseinander. Er zeichnet die Entwicklung Amérys im Detail nach, immer wieder mit Bezug auf die Frage des Einflusses seiner Traumatisierung durch den Holocaust auf sein Denken und seine Suizidalität. Erst Amérys späte Schriften zeigen dabei für B. eine Tendenz, Freiheit hermetisch abzuschließen und sie darin zu verabsolutieren. Gegen dieses hermetische Verständnis der Freiheit zielt B. unter Verweis auf frühere Texte Amérys darauf »die Möglichkeit zu fördern, seinen Diskurs als kritische Legende zu lesen, die mit der Geschichte vorbildlich ins Verhältnis gesetzt werden kann und sich nicht hermetisch gegen die biographischen Bedingungen verschließen muss« (270). Dabei geht es B. darum, »den unbedingten Kern seiner Entscheidung [zum Suizid] in allen Bedingtheiten zu erkennen« (ebd.). So ist Amérys Freitod für B. zwar ohne seine Traumatisierung durch den Holocaust nicht zu verstehen (264), und er kann – durchaus provokant – den Freitod Amérys als »kreative Lösung der narzistischen Krise« (272) darstellen, die seinem faktischen Scheitern als Essayist folgte (246 ff.). Damit hatte Améry, wie ein Blick auf die Legenden um seine Person zeigt, durchaus Erfolg (262.267 f.). Am Ende geht es B., auch im Blick auf die medizinethische Debatte über Suizid und assistierten Suizid (279–304), darum, »die Realität eines Raumes der Freiheit anzudeuten, der sich nur im detaillierten Blick auf die konkrete Wirklichkeit ergibt und der gedanklich nie gänzlich auszuschöpfen ist« (276). Damit plädiert B. für einen situations- und verantwortungsethischen Umgang mit Suizidalität. Das ist nicht neu, herausragend aber ist das Reflexionsniveau, auf dem diese Überlegung durchgeführt wird, und die Methode mittels derer diese ethische Haltung an sehr unterschiedlichen Textgattungen entwickelt und erprobt wird. Die Auseinandersetzung mit den literarischen Texten ermöglicht es B., die ethischen Fragehorizonte auf hohem Niveau in die lebensweltlichen Kontexte hinein zu vermitteln.