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Ausgabe:

März/2012

Spalte:

327–329

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Nakamura, Hideki

Titel/Untertitel:

»amor invisibilium«. Die Liebe im Denken Richards von Sankt Viktor († 1173).

Verlag:

Münster: Aschendorff 2011. 487 S. 23,9 x 16,7 cm = Corpus Victorinum. Instrumenta, 5. Lw. EUR 68,00. ISBN 978-3-402-10428-6.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

Die Untersuchung wurde 2007 von der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn als Dissertation angenommen, Betreuer war Ludger Honnefelder. Sie zeigt auf, was für Richard von St. Viktor contemplatio bedeutet und was er mit seinen Erwägungen über die Dreifaltigkeit meint, um damit herauszufinden, was die Eigenart seines Denkens sei. Wie für alle Viktoriner, so ist auch für ihn die Bibelexegese entscheidend. Vor allem wird die Schrift Benjamin minor untersucht, die bisher im Schatten seiner anderen Werke stand. Dagegen sei es im Mittelalter sein meist gelesenes Werk gewesen. In ihm legt Richard die Familiengeschichte Jakobs tropologisch aus und weist dabei »den Menschen einen Weg zur Vollendung ihrer Existenz«. Der Vf. erhellt in Teil I die Grundlagen von Richards Denken und dabei Theorie und Praxis seiner Schriftauslegung, in Teil II untersucht er seine Anthropologie, die »einen geistlichen Weg des Menschen zur Gottesschau darlegt«. In Teil III geht es um die theologische Entfaltung seiner anthropologischen Ge­danken. Bibliographie und Indices sind angefügt.
Richard stützt sich in seiner Darstellung der Grundsituation des menschlichen Daseins auf seinen Vorgänger Hugo und fragt, wie die Teilhabe des Menschen an Gottes Glückseligkeit möglich sei. Das in der Schöpfung grundgelegte Gute leuchte aus dem Menschen hervor. Doch durch die Erbsünde ist der Mensch »nicht in der Lage, zu erkennen, in welcher Richtung er sein Heil zu suchen hat«, seine Willensfreiheit sei geschwächt (23.25). Gegen die drei Übel (Unkenntnis des Guten, Be­gierde nach dem Bösen und Schwäche des Körpers) gäbe es drei Gegenmittel ( sapientia, virtus, necessitas). Um dem Menschen seine ursprüngliche Würde zurückzugeben, wurde Gott Mensch und stiftete die Sakramente. Im Schöpfungswerk ist sein Heilswerk grundgelegt. Im Benjamin minor analysiert Richard den Erkenntnisprozess und differenziert dabei anhand der Schriftauslegung das menschliche Erkenntnisvermögen. Das ist für Richards Denken von zentraler Bedeutung. Nicht durch Vorstellungskraft und Vernunft allein, sondern erst durch die hinzukommende Einsicht wird der geistliche Aufstieg möglich. In diesem Zusammenhang geht der Vf. auf sein Verständnis des vier­-fachen Schriftsinns ein. Zunächst wird gesagt: »Aufgrund der Geschichte ( historia) lernen wir, was (von Gott) geschaffen worden ist« (55). Mit historia ist die Heilsgeschichte gemeint. Um den mystischen Sinn zu erfassen, muss auf dem Fundament der historia das in ihr geoffenbarte Heilsgeheimnis durch den sensus allegoricus tief erfasst werden. Er spielt die Schlüsselrolle in der Schriftauslegung, historische Auslegung reicht nicht aus, unklare Bibelstellen zu verstehen. Die anagogische Auslegung zielt darauf, die verheißenen Güter im Blick auf das Eschaton zu erhellen, die tropologische darauf, die erworbenen Einsichten auf den Lebenswandel anzuwenden. »Richards Darlegung der Lehre von der Schau gilt als seine hervorragende Leistung im Bereich der theologischen Anthropologie« (79).
In Teil II (83–327) wird nun Richards Durchführung der Tropologie in seinen beiden Benjamin-Schriften untersucht: Die gesamte Tropologie im Benjamin minor »führt aus, wie der Mensch durch die Bildung der Tugenden und die Anordnung der Erkenntnistätigkeiten schließlich die höchste Gottesschau erreichen soll«; personifiziert wird die Gotteserkenntnis durch die Gestalt des Benjamin. Es wird aufgezeigt, wie die Schriftzeugnisse (Gen 35,18, Mt 17,1–8, Ps 67,28) übereinstimmen und wie die kontemplative Gottesschau ermöglicht wird. Dies geschieht auf zwei Wegen: Wissen und Erfahrung (84–87).
Der Vf. stellt darauf die Grundlagen der Tugendlehre dar und exemplifiziert sie an den biblischen Gestalten, den Frauen und Nebenfrauen Jakobs und seinen 13 Kindern (89–202). Rahel und Lea stehen für Vernunft und Affekt, Silpa und Bilha für Sinnlichkeit und Vorstellungskraft. Bei den Kindern ist für seine Lehre vom geistlichen Aufstieg die Reihenfolge der Geburten wichtig. Die Kinder von Lea und Silpa stehen für die Tugenden, die von Bilha und Rahel für die Erkenntnistätigkeit: Joseph steht dabei für die Unterscheidungskraft, Benjamin für die Gottesschau. Die Beziehung zwischen Mensch und dem höchsten göttlichen Guten er­reicht bei der Entstehung der Liebe die entscheidende Phase im Prozess der Tugendbildung. Hier bezieht Richard die Aussage Leas bei der Geburt Judas (Gen 29,34) auf die Liebe zwischen Gott und Mensch, der versucht, Gottes Liebe zu erwidern. Ziel der Liebe ist die Erkenntnis, ihr folgt die Einsicht. Dafür stehen Bilha und Rahel. Einsicht erreicht das Göttliche früher als die Erkenntnis, wird aber durch die Erkenntnis zur reflektierten Liebe, »zum Auge des Geistes«. Sie nimmt »erst durch die höchste kontemplative Gotteserkenntnis … im gesamten geistlichen Prozess den letzten, höchsten Platz ein« (157 f.) und wird mit der Freude zur Norm der Rechtschaffenheit. Die Tugenden können aber, wie Richard an Scham, Schmerz und Hoffnung zeigt, in einen lasterhaften Zu­stand verfallen. Darum ist die Unterscheidungskraft nötig, die zur vollen Selbsterkenntnis führt. Gottes- und Selbsterkenntnis gründen in der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Zur Gotteserkenntnis kommt es nicht durch die Vernunfterkenntnis, sondern erst durch das Zusammenwirken von Erkenntnis und Affekt.
In Kapitel 2 des II. Teiles geht es um die Schau, um Erkenntnis durch Liebe (203–327). Sie kommt in den ecclesiae (sind damit Gottesdienste gemeint?) zustande durch die Entrückung des Geistes im Sich-Sammeln und In-sich-selbst-Einkehren. So kann der Mensch durchbrechen zum Göttlichen. Wo der Mensch in sich selbst einkehrt, transzendiert er sich selbst und orientiert seine Liebe um hin zu Gott. Nach Ende der Gottesschau kehrt der Mensch zu sich selbst zurück. Die Liebe zu Gott verwirklicht sich in seiner Liebe zum Mitmenschen.
In Teil III wird die Anthropologie Richards theologisch entfaltet (331–431). S. E. bestehe »die Aufgabe des fortgeschrittenen Schauenden« darin, »das geschaute Göttliche möglichst umfassend zu bedenken, um es so in die Form einer … auch anderen Menschen zugänglichen ›gemeinsamen Einsicht‹ zu bringen«. Die Aufgabe sei »Bezeugung der Vernunft« und damit sowohl Selbstvergewisserung des Erkennenden als auch Einsichtigmachen gegenüber anderen (331). Der Erkenntnisinhalt der Gottesschau ist das Erkennen der Trinität. Dies exemplifiziert Richard in seiner Schrift De trinitate. Nur in der Gottesschau kann die Trinität erfasst werden; dagegen seien Gottes Wesenseigenschaften teilweise rational zu erfassen. Er will helfen »zu verstehen, was wir glauben« (338), das Geschaute durch schlussfolgernde Argumentation auch der Vernunft einsichtig machen und so die Notwendigkeit der Existenz eines höchsten Seins aufweisen. Er lehnt sich dabei an Augustin und Anselm an. Weiter versucht er, sowohl die Einzigkeit als auch das Gutsein Gottes zu erklären. »Das höchste Gute konstituiert kraft seiner vollkommenen Gutheit den Willen zum Guten« und vollendet sich in selbstloser Liebe. Die Trinität ist die »Gemeinschaft der Liebe« (379.386).
Richard will in den Benjamin-Schriften »Praxisanweisungen für den Vollzug des höchsten Erkenntnismodus geben« und zum Erlangen der ekstatischen Gottesschau anleiten (389). Er tut das in Ausführungen über die vier Stufen der Liebe (verwundend, verzehrend, krankwerdend und zum Untergang führend). Liebe ist letztlich unersättlich und Gott erleidend. So wird sie befreit von der Selbstbezogenheit und frei zu einer neuen Schöpfung, sie wird teilhaftig der Auferstehung Christi und schließlich der Allmacht Gottes, sie wird hineingenommen in die Gemeinschaft der trinitarischen Liebe. Sie will »für das Heil aller Menschen ihren Beitrag« leisten und das Heil weitergeben. »Der vollendete Mensch liebt restlos seinen Mitmenschen und nimmt dadurch am Wesen Gottes als Liebe in höchstem Maße teil« (430 f.).
Richards gesamtes Denken zielt auf Wegweisung für seine Mitmenschen. Ob aber Richards Denken heute noch so ak­tuell ist, wie der Vf. abschließend (auf neun Zeilen!) behauptet, ist zu hinterfragen – ebenso, ob die Liebe, wie sie Richard beschreibt, für den Menschen wirklich erreichbar ist. Für reformatorisches Denken ist dabei doch reichlich viel Menschenwerk. Zweifellos aber ist es dem Vf. gelungen, das Anliegen des Viktoriners, den Menschen einen Weg zur Vollendung ihrer Existenz zu weisen, darzustellen.