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Ausgabe:

März/2012

Spalte:

323–325

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Helmer, Christine, and Bo Kristian Holm [Eds.]

Titel/Untertitel:

Transformations in Luther’s Theology. Historical and Contemporary Reflections.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011. 286 S. m. Abb. 23,0 x 15,5 cm = Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 32. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-02856-6.

Rezensent:

Markus Totzeck

Der Aufsatzsammelband geht zurück auf eine im August 2009 unter dem Titel »Reformation Theology: Reception and Transformation« an der Universität Aarhus gehaltene Konferenz. Das Buch gliedert sich in die zwei Teile »Historical Transformations« und »Contemporary Transformations«, wobei gegenüber der Konferenz noch einmal präzisiert wird: Die historischen Transformationen von lutherischem Gedankengut in der deutschen Theologie und die heutigen Transformationen lutherischer Theologie in globalen und interdisziplinären Kontexten sollen im Mittelpunkt stehen.
Diese Orientierung gehört zum Programm der Herausgeber Christine Helmer und Bo Kristian Holm, nach dem historische Arbeit interdisziplinär sein und durch eine »konstruktive Theologie« in Anbetracht gegenwärtiger und globaler Fragestellungen bereichert werden sollte (10 f.). So sind in dem Aufsatzband auch deutsch- und englischsprachige Beiträge international ausgewiesener Forscher aus dem Bereich der Systematischen Theologie und Ethik versammelt.
Aus explizit deutscher Perspektive, wie es im Titel heißt, entwirft Philipp Stoellger eine Problemskizze zur reformatorischen Theologie im 20. Jh. und zeigt verhärtete Frontstellungen auf. Leitend ist bei den weitreichenden Reflexionen Stoellgers der Gedanke, dass die reformatorische Tradition das sei, was aus ihr gemacht werde (23). In Spannung dazu steht eine zentrale These Stoellgers, dass Religion, gerade auch im Sinne reformatorischer Theologie, als eine »Kultur der Passivität« gelten könne. Eine vermehrte Wahrnehmung von Passivität könne gerade als Chance der Theologie in einer gegenwärtigen Krise der Subjektivität und Autonomie gesehen werden (37). Leider wird in dem Aufsatz gänzlich auf Quellen- und Literaturverweise verzichtet, so dass ein wissenschaftliches Nachvollziehen der Thesen erschwert wird.
Demgegenüber vermittelt der Beitrag der Heidelberger Systematikerin Friederike Nüssel, ausgehend von der reformatorischen Rechtfertigungslehre als articulus stantis et cadentis ecclesiae (40), konkreter zwischen der Inkarnationstheologie Luthers und der Pannenbergs. Der Aufsatz passt deswegen exzellent in die Themenvorgabe des Bandes, weil er eine Transformation der Theologie Luthers in der neueren Theologie nachvollziehbar macht und historisch auf mehrfacher Ebene reflektiert bis hin zu Pannenbergs historischer Reflexion und Ausdeutung der Inkarnation des Gottessohnes selbst.
Auf systematische Beispiele für eine »unglückliche« und eine »glückliche« Transformation lutherischer Theologie bezieht sich der Greifswalder Systematiker Heinrich Assel, indem er exemplarisch die politische Theologie und theologische Anthropologie der Lutherrenaissance aufgreift.
Weiter zurück in die Vergangenheit gehen demgegenüber Paul R. Hinlicky mit einem Vermittlungsversuch zwischen Luther und Leibniz und Christine Helmer, die sich auf Luther und Schleiermacher konzentriert. Gleichwohl behalten beide Beträge auch die aktuelle Lage der Theologie im Blick, Chris­tine Helmer z. B. im Hinblick auf die Spannungen zwischen einer liberalen Theologie und einer »postliberalen« Wort-Theologie innerhalb des Luthertums.
Als Brücke zwischen dem ersten und zweiten Teil des Aufsatzbandes kann Peter Widmanns Beitrag gelesen werden. Er formuliert zunächst allgemeinsprachlich reformatorische Erkenntnisse Luthers als »Wiederholung des ursprünglich und gemeinsam Christlichen« (129), bevor auch kritische theologische Abgrenzungen vorgenommen werden. Eine Reihe ungelöster Fragen innerhalb der lutherischen Theologie und geradezu ein Appell zu weiteren Transformationen des reformatorischen Erbes leiten in den zweiten Teil über.
Der zweite Teil des Aufsatzbandes lässt drei Schwerpunkte der Diskussion erkennen.
Zunächst gehen Risto Saarinen und dann Jan-Olav Henriksen auf unterschiedliche Ansätze einer lutherischen Theologie der Gabe (gift oder giving), die auch in einigen anderen Beiträgen angeschnitten wird, ein. Strittig bleibt u. a., welche Rolle Reziprozität bei einer Theologie der Gabe (z. B. in der Rechtfertigungs- und Gnadenlehre) spielt. Einen weiteren Schwerpunkt bilden zwei Beiträge, die die christozentrische Theologie Luthers vom Heiligen Geist her weiterdenken.
Michael Welker knüpft dabei explizit auch an die reformierte Tradition (Calvins Drei-Ämter-Lehre Christi) an, wohingegen Elisabeth Gerle an eine Transformation durch eine »Eros-Theologie« denkt (223–225). Sie bezieht sich dabei auch auf die lutherische »two kingdoms doctrine«, die einen dritten Schwerpunkt des zweiten Buchteils bildet (vor allem Svend Andersen). Nicht immer wird in den betreffenden Beiträgen aber deutlich, dass in Bezug auf Luther historisch exakt von einer Zwei-Reiche- und Regimenten-Lehre gesprochen werden sollte (216 ff.), womit die Rezeptionsgeschichte und der systematische Zusammenhang genauer gewürdigt würden.
Über dieses traditionell bedeutende Thema lutherischer Theologie und Ethik hinaus gehen schließlich Vítor Westhelle und Hartmut Rosenau originelle andere Wege der Transformation. Westhelle deutet Luthers Lehre von den drei Ständen auf die gegenwärtige Situation des Luthertums in Nord- gegen­-über Südamerika um, und Rosenau entwickelt eine christliche Ethik des Utilitarismus, die von der reformatorischen Tradition ausgehen und sich zugleich an die biblische Weisheitstradition anlehnen könne (206).
Gerade durch die unterschiedlich ausgerichteten Beiträge vermittelt der Aufsatzband insgesamt gut, wie lutherische Theologie heute weitergedacht und neu zur Geltung gebracht werden kann. Einige Beiträge machen dabei sehr deutlich, wie dringend Transformationen lutherischer Theologie werden können, z. B. im Falle nationaler und ethnischer Vereinnahmungen (Gerle), unbewältigter Glaubens- und Heilsfragen angesichts eines religiösen und kulturellen Pluralismus (Hinlicky) oder auch spekulativ-theologischer Verdrehungen (Welker). Wünschenswert wäre allerdings eine weitergehende interdisziplinäre Beteiligung gewesen, die von den Herausgebern in ihrer Einleitung ja gerade als methodisch wichtig er­achtet wird (14). Soziologen, Philosophen, Historiker, Rechtswissenschaftler u. a. hätten hier direkt und nicht bloß indirekt durch Verweise eine Stimme verdient gehabt. Eine kleine Anmerkung sei schließlich zur Wahl des Titels für den Aufsatzband erlaubt. Warum ist nicht anstatt »Transformations in Luther’s Theology« z. B. der Titel »Transformations in Lutheran Theology« gewählt worden? Wie auch im Vorwort angemerkt, geht es thematisch ja nicht um Transformationen in Luthers eigener Theologie, sondern genau genommen um Transformationen lutherischer Theologie bzw. Theologumena und Traditionen. Mit den genannten kleineren Einschränkungen kann der Aufsatzband aber als ein konstruktiver und wissenschaftlich anregender Beitrag gewertet werden, gerade auch im Hinblick auf das von den Herausgebern hervorgehobene Reformationsjubiläum 2017.