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Ausgabe:

März/2012

Spalte:

316–318

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Greyerz, Kaspar von, Kaufmann, Thomas, Siebenhüner, Kim, u. Roberto Zaugg [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion und Naturwissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2010. 342 S. m. Abb. 22,5 x 15,0 cm = Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 210. Kart. EUR 39,95. ISBN 978-3-579-05766-8.

Rezensent:

Joachim Weinhardt

Der Band enthält im Jahr 2007 gehaltene Vorträge von Historikern, Germanisten und Philosophen aus sechs Ländern. Bis auf den letzten Beitrag handelt es sich bei diesen Studien um teilweise eng begrenzte Spezialuntersuchungen zu dem im Buchtitel genannten Thema. Die großen Namen der Geschichte der Naturwissenschaften fallen nur beiläufig, so dass für einen nicht spezialisierten Leser der Überblick, der durch den Titel in Aussicht gestellt wird, auch in der Summe der Beiträge kaum zu erreichen ist. Diesem Manko hat jedoch Kaspar von Greyerz durch eine sehr dichte und konzise Einführung abgeholfen, die nicht übersprungen werden sollte.
Der schon erwähnte letzte Vortrag von Milica Pavlovi Almer trägt den Titel »Hermetische Wissenschaften, wissenschaftliche Hermetismen – Überlegungen zu Sprach- und Denkfiguren der frühneuzeitlichen Naturphilosophie« (306–332). Wissenschaftlich-rationale und okkult-irrationale Elemente der vormodernen Wissenschaftskultur ließen sich nicht so leicht voneinander scheiden wie die Aufklärung das zu tun können vermeinte (307). Bisherige Studien zur frühneuzeitlichen Wissenschaftskultur widmen sich »einzelnen Begriffen und Gegenständen, was fehlt ist hingegen ein synoptischer Blick, der die sich daraus ergebenden Interpretationslinien zusammenführen würde« (309). Pavlovi Almer will zeigen, dass es der »metaphysisch unterlegte Rahmen der Naturphilosophie war, der in der Übergangsphase zwischen einer vormodernen und einer modernen Konzeption von Wissenschaft deren stufenweise Ablösung ermöglichte, indem er die gesellschaftliche Akzeptanz neuer wissenschaftlicher Vorstellungen entscheidend förderte und popularisierte«.
Dies geschah in einem Zweifronten-Kampf gegen eine atheis­tisch-mechanistische Wissenschaft und gegen einen fanatischen religiösen Enthusiasmus, der die Vernunft ganz verabschieden wollte (313). Die neuen Erkenntnisse werden physikotheologisch gewendet und können so in der noch immer von christlichen Traditionen bestimmten Gesellschaft etabliert werden (316 f.). Die Trennungslinie zwischen den später ausgeschiedenen okkulten oder esoterischen Traditionen und der modernen Wissenschaft will Pavlovi Almer über das Vorstellungspaar »Erkenntnis – Wissen respektive Offenbarung – Geheimnis« identifizieren (320). Schließlich differenziert sich der metaphysische Rahmen der frühneuzeitlichen Naturphilosophie in einen Bereich des Physischen und eine metaphysisch bleibende Dimension, die in der wissenschaftlichen Revolution keine Funktion mehr hat (323). Gerade das physiko­theologische Element, das zur Etablierung der Naturphilosophie am meisten beigetragen hat, wurde am Ende der Neuzeit zum Opfer der nunmehr emanzipierten Naturwissenschaft (324).
Alle anderen Beiträge bieten zum Teil sehr fesselnde Beispiele zu der von Pavlovi Almer bezeichneten Gemengelage von später als esoterisch ausgeschiedener Naturphilosophie und rationaler Wissenschaft.
Birgit Biehler stellt Gabriel Plattes als Techniker der Utopie vor (257–275). Der englische Agrarwissenschaftler und Metallurg wollte im Gefolge des Chiliasmus durch Experiment und Wissenschaft »die gottgewollte Herrschaft des Menschen über die Natur« wiederherstellen, die durch den Sündenfall verloren gegangen war. Dieses Projekt stand zusätzlich unter der utilitaristischen Perspektive des Gemeinwohls (263 f.). Die Pfarrer sind in seiner Utopie gleichzeitig naturalistisch arbeitende Ärzte (272). Plattes Beispiel zeige, dass die Interaktion von Religion, Naturforschung und Ökonomik »kein eindimensionaler Prozeß, sondern eine komplexe historische Entwicklung« gewesen sei (274).
Mit Plattes gut in eine Reihe zu stellen sind die von Anne-Charlott Trepp (»Wissenschaft und Religion im Luthertum zur Mitte des 17. Jahrhunderts: Das ›Glück der eigenen Zeit‹ als Forschungsstimulans«, 276–305) vorgestellten Pfarrer Johann Rist, Georg Philipp Harsdörffer und Johann Balthasar Schupp. Sie verknüpfen eschatologische Erwartungen mit dem Willen zur (Um-)Gestaltung der Welt (291).
Mitchell Lewis Hammond behandelt: »›Ora Deum, & Medico tribuas locum‹: Medicine in the Theology of Martin Luther and Philipp Melanchthon« (33–50). Ausgangspunkt ist die These, dass es Affinitäten zwischen der Kirchenreform und der Erneuerung der Medizin des 16. Jh.s gebe. Dagegen zeigt Hammond, dass die Reformatoren weder die antiken Autoritäten angegriffen noch die me­-dizinische Wissenschaft überhaupt erneuern wollten. Durch die Beförderung des Medizinstudiums in Bibelkommentaren, akade­mischen Lehrplänen und städtischen medizinischen Instituten trugen sie aber dennoch zu einer Veränderung des Verhältnisses zwischen medizinischer Praxis und christlichem Glauben bei (50).
Volkhard Wels’ Thema lautet: »Melanchthons Anthropologie zwischen Theologie, Medizin und Astrologie« (51–85). Er vermische die lutherische Theologie mit einer naturphilosophischen Theorie. »Von besonderer Bedeutung ist dabei die spiritus-Lehre des ›Liber de anima‹.« (51) Der spiritus vitalis (Lebensgeist) sei (nach Galen) ein feiner Dampf, den das Blut in alle Teile des Körpers leite. Im Gehirn beherrsche er als spiritus animalis die Affekte, das Denken und das Handeln des Menschen. Den Glauben, der aus der Sünde herausführe, bestimme Melanchthon als »affektive Zustimmung zum Wort Gottes, und diese affektive Zustimmung ist auf physiologischer Ebene eine Vermischung des spiritus sanctus mit dem spiritus animalis des Menschen. Wenn Melanchthon den spiritus sanctus als durch das ›göttliche Licht‹ (divina luce) vermittelt be­schreibt, ist auch dies nicht metaphorisch, sondern wörtlich zu verstehen, denn die spiritus werden durch das Licht der Sonne und der Sterne übertragen« (57). »Die Präsenz des Heiligen Geistes im menschlichen Herzen – und zwar als einem physiologisch gedachten Organ – bezeichnet die ›Teilhabe an der göttlichen Natur‹, die dem Menschen bereits auf Erden zuteil wird. … Das ist selbstverständlich eine Umsetzung von Luthers Lehre vom ›äußeren‹ und ›inneren Wort‹.« (58 f.)
Charles D. Gunnoe jr. schreibt unter dem Titel »German Protes­tantism and Astrology: The Debate between Thomas Erastus and the Melanchthonian Circle« (86–101). Dieser innerprotestantische Disput soll eine reformiert-lutherische Frontlinie bezeichnen. Aber dass es außer Luther selbst nicht noch weitere lutherische Gegner der Astrologie gegeben hat, bedürfte erst noch eines Beweises (100).
Von den anderen Beiträgen können aus Platzgründen nur noch Autor und Titel mitgeteilt werden:
Axelle Chassagnette: Geographia sacra. Usages confessionels de la cartographie biblique au XVIe siècle (102–122); Petr Hlaváček: Bohemia Cor Europae. Die geopolitischen und theologischen Vorstellungen über die Rolle Böhmens und der Tschechen in der Reformationszeit (123–140); Barbara Mahlmann-Bauer: Magie und neue Wissenschaften im Wagnerbuch (1593) (141–185); Charlotte Methuen: »To delineate the divinity of the Creator«: The search for Platonism in late sixteenth-century Tübingen (186–197); Édouard Mehl: La science capitale: Johann Valentin Andreae et les mathématiques (198–216); Stefan Laube: Wissenswelten sinnlicher Frömmigkeit. Theatrale Antriebsmomente in der Na­turanschauung von Bernard Palissy und Jacob Böhme (217–236); Lucas Burkart: Zwischen neuer Wissenschaft und katholischer Restauration (237–256).