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Ausgabe:

März/2012

Spalte:

315–316

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Bei der Wieden, Helge [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Ausstrahlung der Reformation. Beiträge zu Kirche und Alltag in Nordwestdeutschland.

Verlag:

Göttingen: V & R unipress 2011. 277 S. 24,0 x 15,5 cm = Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens, 43. Geb. EUR 43,90. ISBN 978-3-89971-814-0.

Rezensent:

Konrad Hammann

Im Mai 1559 machte Otto VI. Graf zu Holstein-Schaumburg die Mecklenburgische Kirchenordnung von 1552 als Grundlage des gottesdienstlichen und kirchlichen Lebens in der Grafschaft Schaumburg verpflichtend. Zum 450. Jahrestag der Einführung der Reformation in diesem Territorium fand in Bückeburg im Herbst 2009 ein wissenschaftliches Symposion statt, das den Auswirkungen der Reformation auf das Leben der Kirche und die Bevölkerung in Schaumburg-Lippe nachging. Die Beiträge zu dem von Helge Bei der Wieden herausgegebenen Tagungsband beziehen sich zum größten Teil auf Schaumburg-Lippe. Wegen der überschaubaren Größe dieser Territorialkirche erwies es sich freilich als notwendig, in die hier behandelten historischen Gegenstände auch andere nordwestdeutsche Territorien mit einzubeziehen (vgl. 9).
Im ersten Beitrag stellt Helge Bei der Wieden »Die Einführung der Reformation in der Grafschaft Schaumburg« dar (13–51). Er schildert zunächst im Bezug zu den territorialen Gegebenheiten bestimmte Voraussetzungen der Reformation, den Petersablass, die spätmittelalterliche Frömmigkeit, Missstände in der Kirche sowie vereinzelte Reformbestrebungen. Die späte Einführung der Reformation in der Grafschaft Schaumburg erklärt sich auch aus den mancherlei Rücksichten und Interessen, die die Grafen zu Holstein-Schaumburg mit der Erzdiözese Köln und dem Bistum Minden verbanden. Nach einigen vergeblichen Versuchen gab die Heirat des Grafen Otto IV. mit Elisabeth Ursula von Braunschweig-Lüneburg den entscheidenden Anstoß für die Einführung der Reformation in der Grafschaft Schaumburg 1559 auf der Basis der Mecklenburgischen Kirchenordnung von 1552. Freilich war es von der obrigkeitlichen Installierung der neuen kirchlichen Ordnung bis zur endgültigen Durchsetzung des evangelischen Bekenntnisses noch ein langer Weg, der durch Visitationen und ähnliche Mittel beschritten wurde.
Martin H. Jung behandelt sodann »Die neue Stellung des Pfarrers« (53–60). Er zeigt anhand von Kirchenordnungen und Visitationsprotokollen den Wandel vom Amt des Priesters in der mittelalterlichen Kirche zum Amt des Predigers in den reformatorischen Kirchen auf. Die Predigt als Hauptaufgabe des evangelischen Pfarrers erforderte eine angemessene Bildung, entsprechend wurde das Universitätsstudium sukzessive zur Voraussetzung des evangelischen Pfarrerberufs. Dessen Vertreter bildeten nach und nach im Gegenüber zur weltlichen Obrigkeit und zur Gemeinde ein geistliches ständisches Sonderbewusstsein aus (vgl. dazu die von Jung angeführte einschlägige Untersuchung Luise Schorn-Schüttes).
Der political correctness verdankt sich offenbar die Studie Inge Magers: »Frauen im Raum und Umkreis der Schaumburger Kirche seit der Reformation« (61–72). Die Quellenlage im Blick auf den Beitrag von Frauen zur Geschichte des Christentums ist infolge der jahrhundertelangen Fixierung der Geschlechterrollen defizitär. Daher stellt Frau Mager die Bedeutung von Frauen für die Geschichte der Schaumburger Kirche an ausgewählten Konstellationen heraus. Die Pfarrerehe, die Pfarrwitwenfürsorge, das Engagement einzelner Frauen in der Frauenbewegung des 19. Jh.s oder als Diakonissen in der Inneren Mission, die Rolle frommer adeliger Frauen, die Verfolgung von Frauen als Hexen sowie die Insassinnen der evangelischen Stifte Fischbeck und Obernkirchen bilden das thematisch notgedrungen disparate Spektrum dieses Beitrags. Zum Schluss erinnert Frau Mager noch an die vergleichsweise späte Einführung der Frauenordination in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Schaumburg-Lippe.
In Krisenphänomene des 17. und frühen 18. Jh.s – Bedeutungsverlust der Landstände, Verschwendungssucht und Misswirtschaft des Grafenhauses sowie geistliches Versagen vieler Pfarrer – zeichnet Manfred Jakubowski-Tiessen die freilich nicht nachhaltige Geschichte der pietistischen Bewegung in Schaumburg-Lippe ein (73–86). Gefördert vor allem durch den Superintendenten Eberhard David Hauber und die Gräfin Johanna Sophie, konnte der Pietismus zeitweise, allerdings gehemmt durch Widerstände in der Pfarrerschaft, eine gewisse Wirkung in Schaumburg-Lippe erzielen. Eine kirchengestaltende Kraft ging von der pietistischen Bewegung in dem Territorium jedoch nicht aus.
Eine kleine Geschichte der Kirchenmusik in Schaumburg-Lippe bis 1918 bietet Hildegard Tiggemann in ihrem Beitrag »Ein neues Lied wir heben an« (87–125). Sie verbindet theologische, liturgische und hymnologische Perspektiven mit der Nachzeichnung der kirchenmusikalischen Entwicklung in Schaumburg-Lippe, die außer den allgemeinen Tendenzen aufgrund der Förderung der Kirchenmusik durch die gräfliche Familie auch besondere Phänomene aufweist. Exemplarisch genannt seien die bildliche Darstellung zweier musizierender Engel im gräflichen Mausoleum in Stadthagen (101 und vorderer Einband) sowie das bekannte, von dem Rintelner Superintendenten und Professor Josua Stegmann 1627 gedichtete Lied »Ach bleib mit deiner Gnade bei uns, Herr Jesu Christ«. An einer 2009 in Sachsenhagen aufgefundenen liturgischen Handschrift illustriert Frau Tiggemann die um 1700 in Schaumburg-Lippe maßgebliche lutherische liturgische Tradition (127–139).
Unter dem Titel »Ort der Unruhe und der Erbauung« widmet sich Hans Otte den Kirchenbänken und -stühlen, deren Einrichtung und Nutzung in der Frühen Neuzeit zunehmend mit finanziellen Zahlungen verbunden war (141–165). Das so entstandene hierarchische Gefälle im Gotteshaus wurde bereits im Pietismus und in der Aufklärung kritisiert. Die Landeskirchen Hannovers und Schaumburg-Lippes behandelten die Frage einer Abschaffung der Kirchenstühle Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jh.s in Rücksicht auf bestehende Rechtstitel behutsam. Ausgerechnet den »Deutschen Christen« gelang im Rekurs auf die NS-Ideologie der Volksgemeinschaft ein entscheidender Vorstoß, der nach dem Zweiten Weltkrieg allerorten zur Minimierung der Rechte an Kirchenstühlen führte.
Wie die reformatorischen Bildungsideale in »Schaumburg-Lippes Landschulen« seit dem 17. Jh. umgesetzt wurden, zeigt Stefan Brüdermann (167–180). Die langwierige Durchsetzung der Schulpflicht, die Differenzierung des Fächerkanons im 19. Jh. sowie die Hebung des Bildungsstandes der Lehrer durch das Bückeburger Lehrerseminar ab 1783 werden als Etappen auf dem Weg der zuerst kirchlichen Landschulen in deren staatliche Trägerschaft im 20. Jh. beschrieben.
Die beiden den Band abschließenden volkskundlichen Studien greifen über Schaumburg-Lippe hinaus. Karl-Heinz Ziessow stellt unter dem Titel »Schreibende Leser – Volksfrömmigkeit und die Lektüre des protestantischen Landmanns« die religiöse und die generell der Aufklärung des Volkes dienende Literatur und deren Leserschaft im nordwestdeutschen Raum vor (181–214). Silke Wagener-Fimpel gibt anhand von Pfarrerberichten einen Überblick über »Kirche und ländliche Feste im Braunschweiger Land um 1768« (215–270).
Obwohl der Band teilweise auseinanderliegende Themen behandelt, gewährt er instruktive Einblicke in kirchliche und kulturelle Ausstrahlungen der Reformation in Nordwestdeutschland. Ein Personenregister erweist sich als nützliche Hilfe für die Erschließung des Buches.