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Ausgabe:

März/2012

Spalte:

313–315

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Waßmuth, Olaf

Titel/Untertitel:

Sibyllinische Orakel 1–2. Studien und Kommentar.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2011. XV, 589 S. m. Abb. 24,6 x 17,0 cm = Ancient Judaism and Early Christianity, 76. Geb. EUR 174,00. ISBN 978-90-04-17593-8.

Rezensent:

Deborah Jacobs

Olaf Waßmuths Arbeit ist nach Jane Lightfoots »The Sibylline oracles: with introduction, translation, and commentary on the first and second books« (Oxford: Oxford University Press) von 2007 das zweite Buch innerhalb kürzester Zeit, das sich mit diesem interessanten Text beschäftigt. Insofern ist es gewissermaßen unmöglich, das Buch nicht in Relation zu Lightfoots Arbeit zu diskutieren.
W.s Buch wurde im Jahr 2007/2008 als Dissertationsschrift an der Theologischen Fakultät der Universität Bern angenommen. W. hatte mit der Arbeit bereits in den 1990er Jahren begonnen und schloss sie nach mehrjähriger Unterbrechung im Jahr 2007 ab. Aus diesem Grund gelang es ihm nicht mehr, Lightfoots Ergebnisse im Detail zu berücksichtigen, wie er in der Einleitung berichtet. Beide Werke haben unterschiedliche Herangehensweisen. Anders als Lightfoot hat W. es nicht unternommen, einen neuen Text herzustellen, er verwendet die Edition von Johannes Geffcken aus dem Jahr 1902, die bis heute die Standardtextbasis für die Sibyllinischen Orakel darstellt.
Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Teil A – Vorklärungen – beinhaltet Einleitungsfragen wie die Textgrundlage der Sibylli­nischen Orakel, form- und motivgeschichtliche Voraussetzungen, einen kurzen Überblick über die Forschungsgeschichte, das Verhältnis zu den restlichen Sibyllinischen Orakeln sowie die Zusam­mengehörigkeit von den Büchern eins und zwei der Sibyllinischen Orakel. Teil B ist der Hauptteil des Buches, in dem das erste und das zweite Sibyllinische Orakel ausführlich kommentiert werden. In diesem Kommentarteil sind die Darstellungen der Aufnahme von Motiven aus den Werken Hesiods besonders hilfreich, da W. hier detaillierter und übersichtlicher vorgeht als Lightfoot. Teil C fasst die Ergebnisse aus Teil B zusammen.
W. wendet sich den Sibyllinischen Orakeln 1 und 2 zu, um zu zeigen – und hier liegt der entscheidende Unterschied zu Lightfoots Buch –, dass es sich a) bei dem Doppelbuch um die älteste der christlich bearbeiteten bzw. verfassten Sibyllenschriften handelt und b) weil er versuchen möchte, eine jüdische Grundschrift aus diesem Doppelbuch zu rekonstruieren. Die These, dass die Sibyllinischen Orakel 1 und 2 auf einer jüdischen Grundschrift beruhen, ist jedoch nicht neu. Schon Alfons Kurfeß stellte diese These im Jahr 1941 auf (Oracula Sibyllina I/II, in: ZNW 40 [1941], 151–160), die von Collins und Lightfoot ebenfalls akzeptiert wurde. Hauptansatz hierfür ist die Rezeption der Noahgeschichte in den beiden Sibyl­-linischen Orakeln und die Assoziation der Noahfigur mit dem klein­asiatischen Phrygien und dem dort ansässigen Judentum. W. kommt schließlich zu dem Schluss, dass die Grundschrift der Sibyllinischen Orakel 1 und 2 aus dem Judentum Phrygiens des 1./2. Jh.s stammt. Diese These hatte bereits Paul R. Trebilco im Jahr 1991 (Jewish communities in Asia Minor, SNTSMS 69, Cambridge: Cambridge University Press 1991) vertreten. Im 2./3. Jh. wurde in Phrygien vermutlich die jüdische Grundschrift christlich überarbeitet.
Diese Grundschrift-Hypothese ergibt sich aus einigen Beobachtungen. Die Sibyllinischen Orakel 1 und 2 bilden einen abgeschlossenen Erzählbogen vom Proton bis in das Eschaton. Jedoch existieren einige auffällige Brüche: In der Erzählung der sechsten Generation wird die heidnische Sibylle als Schwiegertochter Noahs in die biblische Geschichte eingegliedert, während sie am Schluss der beiden Orakel zum Prototyp des Sünders degradiert wird. Dieser Schluss ist unvereinbar mit der Noahfiktion des Restes des Buches. Ferner bricht die Erzählung über die siebte Generation unvollendet ab, stattdessen folgt eine Erzählung über die Geburt Jesu. Das lässt darauf schließen, dass diese Teile sekundär in den Text gekommen sind. Zudem liegt es nahe, dass diese Überarbeitungen christlich sind, während der Rest des Buches jüdischer Provenienz ist. W. ist sicherlich der erste Forscher, der sich an einer detaillierten Herausarbeitung der jüdischen Grundschrift versucht hat.
Als Hauptargument gegen eine christlich verfasste Grundschrift führt W. die Störung der ursprünglich intendierten Struktur ins Feld. Wäre die Grundschrift von vornherein christlich gewesen, hätte sie auch von vornherein eine Christusprophetie enthalten. Ferner kommt die im Rest des Buches so prominente Noah­geschichte in den von W. als christlich identifizierten Ergänzungen überhaupt nicht vor.
Jane Lightfoot hingegen ist vorsichtiger und lehnt eine strikte Trennung zwischen jüdischer Grundschicht und christlicher Überarbeitung ab. Die kleinasiatischen Fluttraditionen könnten ebenso gut christlich sein. Im Endeffekt liegen beiden Büchern die jeweiligen Grundansätze der deutschen und anglo-amerikanischen Forschung zugrunde, wovon der eine synchron und der an­dere diachron orientiert ist. Insofern ist es tatsächlich ein Glücks­-fall, dass die Sibyllinischen Orakel 1 und 2 von zwei verschiedenen Perspektiven bearbeitet wurden.
W. kommt zu dem Schluss, dass das erste Sibyllinische Orakel relativ deutlich in Grundschrift und Bearbeitung auseinanderfällt, während das heute als zweites Buch abgetrennte Stück durchgehend bearbeitet und ergänzt worden ist. Es stellt eine der vielen Stärken des Buches dar, dass W. am Ende darauf verzichtet, eine sichere Rekonstruktion der Grundschrift zu postulieren.
Im Großen und Ganzen stellt das Buch eine äußerst gelungene Fortsetzung und Ergänzung der bisher doch recht überschaubaren Literatur zu den Sibyllinen dar. Gerade da, wo W. von Lightfoot abweicht, zeigt sich, dass die Diskussion um die Sibyllinischen Orakel noch längst nicht am Ende ist.