Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2012

Spalte:

309–311

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Moll, Sebastian

Titel/Untertitel:

The Arch-Heretic Marcion.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. XIII, 181 S. 23,2 x 15,5 cm = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 250. Lw. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-150268-2.

Rezensent:

Adolf Martin Ritter

Dies Buch ist ein Phänomen! Es geht letzten Endes auf eine wissenschaftliche Erstlingsarbeit zurück, die – und das kommt wahrlich nicht alle Tage vor – als Theaterstück präsentiert wurde und dafür ihrem, offensichtlich vielseitig begabten, Verfasser Sebastian Moll dennoch den akademischen Grad eines »Master of Theology« eintrug; ungewöhnlich ferner, dass das mehrfach, einmal gar auf einem angesehenen internationalen Fachkongress (und das mit prominenten Akteuren!) aufgeführte Stück anschließend zu einer »seriösen« Doktorarbeit ausgestaltet wurde, die im Druck gleichwohl, trotz des vielschichtigen und -erörterten Themas, mit, sage und schreibe, 181 großzügig gesetzten Seiten (inklusive insgesamt ca. 15 Seiten Zusammenfassungen und 20 Seiten Bibliographie samt Indizes!) auskommt. Es ist für hiesige Verhältnisse recht ungewöhnlich, wiewohl sich das, im Zeichen von Exzellenzinitiativen und anderen Importen, auch hierzulande längst zu ändern beginnt, dass der Vf., unter der Dichterlosung antretend: »It is better to fall in originality than to succeed in imitation« (VII), die Lösung eines verzwickten Rätsels zu bieten verspricht (10.47, Anm. 1) und am Ende, als sei dem Urteil des Lesers doch nicht recht zu trauen, umständlich vorrechnet, inwiefern das Versprechen tatsächlich eingelöst wurde (159 ff.).
Es wäre jedoch ein großer Fehler, das Buch wegen solcher und anderer Abnormitäten nicht ernst zu nehmen. Selbst dass der Vf. manchmal mit seiner Kritik an anderen Positionen zu schnell bei der Hand ist (bes. 5 ff.), ja gegenüber seinem Hauptwiderpart, dem großen Harnack, gelegentlich einen reichlich ungehörigen Ton anschlägt (vgl. etwa 84: »In his typically self-confident manner Harnack stated …«), sollte nicht dazu verleiten, das Buch beiseitezulegen. Es ist ein kluges Buch und lohnt sich, durchweg ins Gespräch gezogen zu werden, wann immer man sich mit dem »Erzketzer« des frühen Christentums, Marcion, beschäftigt, der gerade jüngst wieder ein erstaunlich hohes Forschungsinteresse auf sich gezogen hat, das nicht so schnell wieder verebben dürfte. Und es ist – in seiner straffen Gedankenführung, mit seinen zahlreichen (in der Summe freilich entnervenden, manchmal unmittelbar aufeinan­derfolgenden) Zusammenfassungen und reichartigen Registern– ein idealer (Forschungs-)Begleiter.
Behandelt werden in dem Buch, in einer perlkettenartig-locker gefügten Aufeinanderfolge, nach einer »Einführung« (in die nach-Harnacksche Marcion-Forschung anhand ausgesucht weniger Beispiele [1–10]), 1. das Quellenproblem (unter Beschränkung auf diejenigen Quellen, zu denen nach wie vor, in der oder jener Weise, Diskussionsbedarf besteht [11–24]), 2. Marcions Leben (mit dem Hauptergebnis, dass dessen Biographie einer späteren Phase der Kirchengeschichte zuzuordnen ist, als gemeinhin angenommen [25–46]), 3. Marcions Götter (Fazit: Marcion war strenger Dualist; eine Drei-Götter-Lehre, unterscheidend zwischen einem guten, einem gerechten Gott und einer bösen Materie o. Ä., kam im Markionitismus erst nach dem Tod des Meisters auf [47–76]), 4. Marcions Bibel (dazu gleich [77–106]), 5. Marcions Werke (107–120), 6. Marcions Kirche (ihre Strukturen, Marcions Stellung darin, Zusammensetzung und Ethik ihrer Gliedschaft [121–134]), 7. Marcions Zeit (unter Konzentration auf die christlichen Einstellungen zum Alten Testament vor und nach Marcion [135–158]). Es folgen eine Schlusszusammenfassung (159–162), ein Literaturverzeichnis und alle wünschbaren Register.
Dass Buch bietet reichlich Diskussionsstoff. Ich beschränke mich auf einen einzigen Punkt, den der Vf. selbst für zentral hält (106 u. ö.), nenne aber zuvor den Grund, weshalb er, ziemlich singulärerweise unter den Jüngeren, Marcion ohne Weiteres (ohne Anführungszeichen jedenfalls) als »Erzketzer« bezeichnet. Bereits zu Beginn der Einleitung heißt es dazu, in diesem Falle »haben wir es mit einer Situation zu tun, in welcher die Begriffe ›Häresie‹ und ›Orthodoxie‹ in ihrem klassischen Sinn anwendbar sind, so dass ihre Ersetzung unnötig ist« (2, Anm. 6). Zur Begründung ist im biographischen 2. Kapitel zu lesen: Anders als (andere) Gnostiker wie Valentin und Ptolemaeus habe Marcion, selbst in einem eher toleranten Klima wie dem des frühchristlichen Rom mit seinem verschiedenen »Hausgemeinden«, nicht geduldet werden können, weil er glaubte, die Kirche habe die wahre Lehre Christi in gefähr licher Weise pervertiert, und deshalb eine Gegenbewegung in Gestalt einer Sonderkirche startete. So sei er der erste wirkliche kirchliche outcast, »der erste wirkliche Häretiker« gewesen (44; vgl. auch 46.148). Das lässt sich, denke ich, fürs Erste hören.
Doch nun zum genannten Hauptpunkt. Um auf einen kurzen Nenner zu bringen, worauf es zum Verständnis von Marcions Denkweise vor allem ankomme, bedient sich der Vf. – zweimal, in exakt dem gleichen Wortlaut und durch Kursivierung hervorgehoben, als sei er sich des Effektes doch nicht ganz sicher – der einprägsamen Formel: Marcion »verstand nicht das Alte Testament im Licht des Neuen, er interpretierte vielmehr das Neue Testament im Licht des Alten« (106.160). Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass diese Weisheit alsbald von vielen Dächern herab widerhallt. Aber macht sie Sinn?
Nicht nur, dass zu Marcions Zeiten Altes und Neues Testament, genau genommen, erst noch im Werden begriffen waren. Sondern: Was Interpretation des Neuen, sagen wir: der Christusbotschaft, im Licht des Alten, »Mose und der Propheten«, wirklich bedeutet, wurde bereits vor und zu Marcions Lebzeiten, im Prozess der »Scheidung der Wege« zwischen Juden- und Christentum, leidvoll erfahrbar und kann noch heute, im schwierigen christlichen Dialog mit orthodoxen Juden, studiert werden. Es führt durchaus nicht zwangsläufig zu »des Häresiarchen Denkweise« (106), für die es im Übrigen keineswegs spezifisch ist, »dass wir mit dem Alten Testament und seinem Gott zu beginnen haben« (ebd.); denn das ist für eine »orthodoxe« Denkweise keine Spur anders, nur, dass es nicht »der erste Gott in M.s System« ist (ebd.), den sie dort, im Alten Testament, entdeckt.
Es ist auch nicht leicht einzusehen, weshalb es völlig verkehrt sei, mit Harnack zu sagen, Marcion habe »das Zeugnis des AT schlichtweg zurückgewiesen« (106; vgl. 3.66.78 ff.146.153 f.161 f.). Da es bei ihm ausnahmslos als Negativfolie für das »Evangelium« des Neuen Testaments für dessen Absicherung durch den »Apostolos« fungierte, bedurfte es, nach und neben der Auflistung von »Widersprüchen« zwischen Altem und Neuem Testament in Gestalt von Marcions »Antithesen«, als gleichsam katechismusartiger Im­munisierung der Gläubigen, im Grunde keiner weiteren Inspirationsquelle und »Basis« neben dem Neuen Testament; so war das Alte Testament in der Tat »obsolet«.
Dass Marcion – in biblizistischer Manier – sein dualistisches Gottesbild »in den beiden Testamenten und nirgendwo sonst gefunden« habe (75), wird vom Vf. – wie schon von Harnack – eher behauptet als einleuchtend gemacht. Denn damit zu rechnen, dass der »Erzketzer« schon mit einem bestimmten (gnostisch-dualistischen, vielleicht auch einfach vulgärplatonischen) Vorverständnis an die Näherbeschäftigung mit den biblischen Überlieferungen herantrat, dürfte nicht unvernünftiger sein, als mit Harnack und dem Vf. seine Zuflucht bei allerlei psychologischen Motiven für Marcions Welt hass zu suchen (vgl. 127 u. ö.), ohne die beide nicht auskommen. Ja, diesen Welthass, welcher ihm die Akzeptanz des Alten Testaments, und sei es auch nur als Vorbereitung und Vorhalle des Neuen Testaments, verwehrte, konnte Marcion unmöglich der unvoreingenommenen Lektüre desselben Alten Testaments, so »wie es ist« (153), entnehmen.
Kurzum: Es gibt viele Fragen. Und es war doch eine lohnende, erfrischende Lektüre, von der hier Bericht zu erstatten war.