Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2012

Spalte:

303–305

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Zeller, Dieter

Titel/Untertitel:

Der erste Brief an die Korinther. Übers. u. erklärt v. D. Zeller.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010. 549 S. 24,2 x 16,5 cm = Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament, 5. Lw. EUR 86,95. ISBN 978-3-525-51534-1.

Rezensent:

Florian Wilk

Dieter Zeller, Prof. em. für Religionswissenschaft des Hellenismus in Mainz, legt mit diesem Buch die reife Frucht seiner langjährigen Erforschung des 1Kor vor. Es beinhaltet nach Vorwort und Inhaltsverzeichnis eine gut sortierte Bibliographie (die im Zuge der Auslegung durch Literaturangaben zu einzelnen Abschnitten, Themen oder Versen sukzessive ergänzt wird), eine etwa 40-seitige Einleitung, die fortlaufende Kommentierung des Briefes sowie neun (zwischen zwei und neun, insgesamt gut 50 Seiten umfassende) Exkurse. Register fehlen.
Die Ausrichtung seines – dankenswerterweise einbändigen – Wer­kes charakterisiert Z. im Vorwort (5) wie folgt: »Die Suche nach analogen Motiven in der Religionsgeschichte sowie die traditionsgeschichtliche Beleuchtung sollten sich mit den philologischen Mitteln der Textanalyse verbinden, um die theologische Aussage des Paulus herauszuarbeiten, die vor diesem Hintergrund besser verstehbar wird oder Profil gewinnt.« Hinzu kommen der ständige Rückbezug auf die aus dem Text erschlossene Kommunikationssituation zwischen Absender und Adressaten sowie gelegentliche Ausblicke auf die Auslegungsgeschichte. Die Durchführung dieses Programms ergibt einen Kommentar, der eine detaillierte literarisch-historische Untersuchung der Ausführungen und eine Re­konstruktion der Aussageabsicht des Apostels auf mustergültige Weise verbindet.
In der Einleitung macht Z. auf der Basis einer umfassenden und sorgfältigen Sichtung der Forschungslage deutlich, welche Grundüberzeugungen ihn bei der Interpretation des 1Kor leiten: a) Veranlasst wurde der Brief durch Anfragen und Nachrichten zu diversen Problemen und Konflikten in der Gemeinde, die »auf verschiedenen Ebenen« lagen und deshalb nicht auf ein und »denselben Hintergrund« zurückgeführt werden dürfen (44). b) Dieser Veranlassung entspricht der Aufbau des Briefs; Versuche, diesem ein »einheitliches Thema« (48) zu geben, ihn »eindeutig einer rhetorischen Gattung zuzuteilen« (50) oder in ihm »eine spezifische Theologie« (64) zu entdecken, sind verfehlt. c) Auch bei der Analyse von Teilstücken ist die Suche nach den »klassischen partes orationis« (51) wenig hilfreich; andererseits hat man gerade bei einer Würdigung »der logischen Struktur« (52) mit strategisch oder genetisch bedingten Brüchen und Spannungen im Gedankengang (55) zu rechnen. d) Formale und inhaltliche Beobachtungen legen gleichwohl nahe, die Abschnitte 1Kor 11,2–34 und 15 dem in 5,9 erwähnten »Vorbrief« zuzuweisen (56–58). e) Insgesamt zeichnet sich der 1Kor dadurch aus, dass Paulus der Christusbotschaft »in wechselnden Situationen immer neue Bedeutung« (65) abgewinnt, um auf diese Weise die Einheit der Gemeinde herzustellen (64).
Die Auslegung erfolgt nach Sinneinheiten gegliedert, die meist zwischen zwei und 15 Versen umfassen. Dabei beginnt Z. jeweils mit einer textkritisch annotierten Übersetzung samt Hinweisen auf spezielle Sekundärliteratur, analysiert dann in Kürze Form, Anlage und Sprachgestalt des Abschnitts, kommentiert daraufhin (in der Regel Vers für Vers) ebenso gründlich wie konzentriert den Gedankengang des Paulus und beschreibt schließlich (wiederum knapp) Funktion, Sachgehalt und theologische Eigenart der betreffenden Verse. Überdies werden die acht Hauptteile des Briefkorpus (1Kor 1,10–4,21; 5–6; 7; 8,1–11,1; 11,2–34; 12–14; 15; 16,1–12) und der Briefschluss jeweils sowohl (zu Beginn) hinsichtlich ihres Aufbaus als auch (am Ende) hinsichtlich des in ihnen verfolgten Anliegens zusammenfassend charakterisiert.
Die Exkurse sind den religions-, zeit- und traditionsgeschichtlichen, zum Teil auch den situativen Hintergründen der paulinischen Aussagen zur rhetorischen Weisheit, zum Kreuz Christi, zur »Weisheit Gottes« (in 1Kor 2,6–16), zur Unzucht, zur Jungfräulichkeit, zum Götzenopferfleisch, zum Un­terhalt der Missionare, zur frühchristlichen Glossolalie und Prophetie sowie zur Auferstehung der Toten gewidmet.
Folgende exegetische Akzente sind zu notieren:
a) Mit 1Kor 1,2 f. werden die Korinther »in eine große Gemeinschaft des Bekenntnisses, aber auch des Segens« gestellt (76); dieser »ökumenische Horizont« prägt den Brief bis in die Schlussgrüße hinein (544).
b) Paulus verknüpft in 1Kor 1–4 die Auseinandersetzung mit »rhetorischer Weisheit« und die Kritik des »Parteienunwesens«, weil »der Verkündigungsstil des Apollos« »in Korinth Schule« ge­macht hat (101 f.).
c) 1Kor 2,6–3,4 bietet über die Erstverkündigung hinaus »eine ›Meta-Theorie‹ des Wortes vom Kreuz«, die den Adressaten »die Identifikation mit den Pneumatikern als attraktive Möglichkeit« vorhält, dann aber »mit paränetischem Hintersinn … abspricht« (154 f.).
d) Der »außerordentliche Stellenwert«, den Paulus in 1Kor 6 u. ö. dem Leib einräumt, basiert auf der »leibliche[n] Preisgabe Christi am Kreuz, durch die Gott sich den ganzen Menschen erworben hat« (228 f.).
e) Mit 1Kor 7 bestätigt der Apostel »eine wohl von ihm selbst … ausgelöste asketische Bewegung«, bremst aber »asketischen Überschwang« und beweist »erstaunliche Flexibilität angesichts individueller Situationen« (278).
f) Um »den Erkenntnis-Leuten Enthaltung von als solches identifiziertem Opferfleisch nahezulegen«, verknüpft Paulus in 1Kor 8,1–11,1 die Mahnung zum rücksichtsvollen Gebrauch der gegebenen »Freiheit zum Essen« mit der – logisch gegenläufigen – Warnung vor der Teilnahme am Götzenopfermahl (349).
g) In 11,2–34 fordert er aus verschiedenen Gründen das »Festhalten an den von ihm übermittelten Traditionen« zum Gottesdienst ein (363, vgl. 365).
h) Den Auswüchsen des von ihm selbst entfachten »Pneumatismus« begegnet Paulus in 1Kor 12–14 (382), indem er die Geistesgaben der »Erbauung der Gemeinde« zuordnet und »der Liebe als conditio sine qua non unterstellt« (449).
i) In 1Kor 15 tritt er der Negation einer – »als leibhaftige Rückkehr der Verstorbenen in dieses irdische Dasein« vorgestellten – Auferstehung der Toten entgegen (458 f.) und sucht sie mit diversen Argumenten den Christen »als Hoffnungsgut nahezubringen« (528).
Der Kommentar muss den Vergleich mit den Werken »der großen Vorgänger« (5) keineswegs scheuen. Immer wieder gelingt es Z., so eingehend wie nötig und so knapp wie möglich über die Forschungsdiskussion zu informieren, Gliederungs- und Übersetzungsfragen zu klären, den religionsgeschichtlichen Kontext der paulinischen Aussagen nach der paganen wie nach der jüdischen Seite aufzuhellen, die traditionsgeschichtliche Verwurzelung dieser Aussagen aufzuspüren und sie situativ zu verorten, um auf diesem Wege ihren Sachgehalt und ihre Intention herauszuarbeiten. Dabei wird der Quellenbefund präzise differenzierend wahrgenommen und seine Interpretation (jedenfalls meistens) überaus sorgfältig begründet. – Dass etliche exegetische Entscheidungen diskutabel sind, liegt in der Natur der Sache. Anlass zu grundsätzlicher Kritik besteht indes nur selten: Unterbewertet ist die Bedeutung der Schrift als Quelle des Denkens und Basis der Argumentation des Apostels (vgl. 66 u. ö.), überzogen die These einer »von ihm selbst propagierte[n] Freiheit vom Gesetz« (231 u. ö.), unterschätzt die logische Kohärenz seiner Gedankenführung (etwa in Kapitel 10 und 15). Fragwürdig sind zudem manche psychologisierenden Bewertungen paulinischer Aussagen (z. B. 209.498).
Auch in formaler Hinsicht ist das Buch weithin gelungen; soweit ich sehe, enthält es nur wenige Druckfehler. Umso mehr stört, dass die hebräischen Wörter häufig ungenau punktiert worden sind. Nicht konsequent durchgeführt ist zudem der Einsatz runder Klammern zur Kennzeichnung »sinngemäße[r] Ergänzungen bei der Übertragung ins Deutsche« (67).
Z. hat dem »Kritisch-exegetischen Kommentar über das Neue Testament« einen ebenso glänzenden wie anregenden Band hinzugefügt: gratulor!