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Ausgabe:

März/2012

Spalte:

290–292

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Beaude, Pierre-Marie

Titel/Untertitel:

Saint Paul, l’œuvre de métamorphose.

Verlag:

Paris: Cerf 2011. 431 S. 21,5 x 13,5 cm = Théologies. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-2-204-09228-9.

Rezensent:

Christian Noack

Pierre-Marie Beaude (geb. 1941, emeritierter katholischer Professor an der Paul-Verlaine-Universität in Metz) legt ein Werk zu Paulus vor, in dem er unterschiedliche sozioanthropologische Zugänge zu dessen Denken thematisieren möchte: Körper, Zugehörigkeiten, Autorität, Legitimation von Macht, Identität. Diese und weitere Problemstellungen gruppiert er in der vorliegenden Studie nicht um ein zentrales inhaltliches Thema herum, das es seines Erachtens bei Paulus auch gar nicht gibt (142 f.), sondern um ein strukturelles »Organisationsprinzip« ( un principe organisateur, 13), das dem paulinischen Denken B.s Überzeugung nach seine eigentümliche Form gibt: Er erkennt bei Paulus ein »metamorphisches Prinzip« (principe métamorphique, 13, vgl. auch code métamorphique, 76, oder logique métamorphique), ein »Werk der Metamor­phose« (l’œuvre de métamorphose), ein »metamorphisches Denken« (la pensée métamorphique).
Er macht diesen Zugang zu Paulus in Kapitel 1 zunächst am einschlägigen Wortfeld bei Paulus fest (u. a. Röm 12,2; 2Kor 3,18; 1Kor 15,51 f.; Röm 8,29), aber auch an Formulierungen der Identität mit einem anderen Körper (1Kor 12,27) oder der Partizipation an einem anderen Leib (Gal 2,19; Röm 6,4–6). Wesentliches Merkmal der Metamorphosen ist ihr sprunghafter, ruckartiger, bruchartiger und nicht kontinuierlicher oder entwicklungsartiger Charakter. Sprachbilder der Verwandlung sind u. a. sterben und auferstehen, verwandelt werden, verherrlicht werden, zum Himmel emporgehoben werden. Wichtig ist B. der Hinweis, dass die Verwandlungsmotive bei Paulus meist eng mit der Sprachfigur des Leibes verbunden sind, und die Beobachtung, dass diese Verwandlungen durch den Glauben zur Realität werden ( modalise la métamorphose par le ›croire‹, 25–27).
Methodisch wird der weitere Argumentationsgang zur Begründung der These, dass bei Paulus ein œuvre de métamorphose vorliegt, in den folgenden neun Kapiteln in lockerer Verbindung der Themen in Angriff genommen. Er wendet sich den eingangs genannten anthropologischen Fragestellungen zu, die er als Kenner des an­tiken Judentums und der griechisch-römischen Antike, im in­terdisziplinären Gespräch und in kritischer Anknüpfung an we­sentliche Erträge der Paulusforschung der letzten Jahrzehnte, bearbeitet. Die einzelnen Kapitel schließt er mit weiterführenden Thesen ab (acquisitions), die die wesentlichen Erkenntniserträge der vorangegangenen Interpretationen auf die Frage beziehen, in­wiefern sich der paulinische Zugang zu dem jeweils ausgewählten anthropologischen Thema als ein verwandlungsgeprägtes Den­ken auszeichnet.
Die Vielfalt der Zugänge zeigt ein (unvollständiger) Überblick darüber, was B. in den einzelnen Kapiteln thematisiert. 2. Un corps parlant: Beschneidung, der »Pfahl im Fleisch«, Glossolalie in Ko­rinth, das »Seufzen des Geistes«. 3. Le corps métamorphosé: Analyse von 1Thess 4,13–18 (Himmelfahrt der toten Leiber), 1Kor 15 und 2Kor 5 (Auferstehung und Metamorphose). 4. Voyage aux limites du corps: Paulus als Mystiker in 2Kor 12, Paulus und die Mysterien, der »Diskurs des Apostels« (1Kor 1–2). 5. Le corps de l’Autre: Mystischer Körper und Rechtfertigung durch den Glauben, Metapher und Realität, die Kirche als Leib. 6. Esthétiques et métamorphoses – Paul et Luc: Raum und Zeit bei Paulus und bei Lukas im Kontext des Römischen Imperiums. 7. Autorité, institution et métamorphose: Antiochia, Jerusalem, die paulinischen Gemeinden. 8. Métamor­phose des appartenances: Modelle der Zugehörigkeit im zeitgenössischen Judentum, Modelle der Zugehörigkeit bei Paulus, Paulus im Kontext von Stoa und Kynismus, Röm 9–11 als Modell einer »Anamorphose«. 9. Métamorphose du lecteur: Die Bildung eines neuen Ichs bei Paulus durch Narration, Bezug zur Jesustradition, zur Schrift und auf das Bild Christi (2Kor 3–4). 10. Métamorphose et instauration du sujet: Das Gesetz, »Werke des Gesetzes«, Röm 5–8; Universalität bei Paulus.
B. legt von diesem Ansatz her seinen Schwerpunkt auf die partizipative Soteriologie bei Paulus (in kritischem Anschluss an A. Schweitzer und E. P. Sanders). Die Rechtfertigungslehre wird vor dem Hintergrund eines verwandlungsorientierten Denkens interpretiert (137–143.169). Die apokalyptische Dimension seines Werkes, ohne die das paulinische Konzept plötzlicher und abrupter Verwandlung gar nicht denkbar wäre, wird ebenfalls von B. betont (379 f.). B. profiliert diesen apokalyptischen, verwandlungsorientierten Denkstil gegenüber der Gnosis und dem Enthusiasmus in Korinth auf der einen Seite und gegenüber Lukas auf der anderen Seite, dem die Pastoralbriefe und die Kirchenväter folgten. Hier die institutionelle Verfestigung einer religiösen Bewegung im Kontext imperialen Raums und imperialer Zeit, dort die individualisierte Heilsvollendung in der Geistekstase ohne körperliche Verwandlung. Zwischen Über- oder Unterbewertung der Existenz in der Zeit, zwischen gemeinschaftsvergessener, ichbezogener mys­-tischer Ekstase oder Einordnung des Einzelnen in die Kirche als Heilsinstitution, setzt Paulus auf Gemeinde als »Sohnschaft Gottes«, die vorrangig die Aufgabe hat, die Gläubigen an der eschatologischen Metamorphose teilhaben zu lassen, indem sie als »Leib Christi« existiert, d. h. auf den Leib eines anderen, auf den des Chris­tus, bezogen lebt, in Teilhabe an dessen Tod und Auferstehung. B. charakterisiert diesen ekklesiologischen Ansatz mit Be­griffen wie »Plastizität« (132), »organisch« (240.389), »instabil« (131) oder »performativ« (170). Der einzelne Körper des Gläubigen befindet sich mit der Gemeinde als Leib Christi und mit dem gesamten Kosmos in einem Prozess der Transformation, der in der Gegenwart vor allem durch das Leiden (2Kor 5; Röm 8,18–26) und die Praxis der Liebe gekennzeichnet ist.
Die Stärke dieses reifen Werkes ist sein interdisziplinärer Diskurs, in dem Denker wie M. Bachtin, J.-L. Marion, S. Freud, A. Badiou, J. Butler, J. Lacan, G. Agamben, E. Levinas, M. Foucault, P. Ricœur in die Interpretationen einbezogen werden. Mit dieser Rezeption gelingt es B., exegetische Konventionen zu verlassen und neue Beobachtungsperspektiven auf das paulinische Denken zu gewinnen. Das Gleiche gilt auch für intertextuelle Vergleiche, wenn B. beispielsweise Platon, Ovid oder Euripides zur Erhellung paulinischer Textpassagen heranzieht. Wichtige Strömungen der internationalen Paulusforschung werden rezipiert (u. a. die »New Perspective«, der »politische« Paulus, Paulus und die Philosophen), aber auch klassische Thesen der deutschen Paulusforschung (A. Schweitzer, E. Käsemann, G. Theißen). Die neuere deutschsprachige Forschung seit 1990 zu Paulus und zum Thema wird (bis auf G. Theißen) kaum einbezogen. So fehlen z. B. U. Schnelles Überlegungen zu »Transformation und Partizipation als Grundgedanke der paulinischen Theologie« (NTS 47 [2001], 58–75) oder Fr. Backs Studie »Verwandlung durch Offenbarung bei Paulus« (2002). Auch der Ansatz von Chr. Strecker, die Kulturanthropologie Turners für den metamorphoseorientierten Charakter der paulinischen Theologie fruchtbar zu machen (Die liminale Theologie des Paulus, 1999), wird nicht rezipiert.
Alles in allem ein Werk, das nicht nur mit seiner zentralen These Aufmerksamkeit verdient, sondern auch einen Schatz an vielfältigen spannenden Einzelbeobachtungen in sich birgt, von denen aufmerksame Leser profitieren können, zu denen B. sicherlich nicht nur Exegeten oder Theologen, sondern auch Kulturwissenschaftler und Philosophen zählen möchte.