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Ausgabe:

März/2012

Spalte:

285–287

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Jürgens, Henning P., u. Thomas Weller [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion und Mobilität. Zum Verhältnis von raumbezogener Mobilität und religiöser Identitätsbildung im frühneuzeitlichen Europa.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010. VI, 419 S. m. Abb. 23,2 x 15,5 cm = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Beihefte, 81. Geb. EUR 65,95. ISBN 978-3-525-10094-3.

Rezensent:

Christian V. Witt

Der Tagungsband untersucht die »enge Wechselbeziehung« zwischen »Religion und Mobilität« (1) in ihrer historischen Dimension und nimmt dazu das »Verhältnis von raumbezogener Mobilität und religiöser Identitätsbildung im frühneuzeitlichen Europa« in den Blick. Dies geschieht in der Absicht, »religions- und migrationsgeschichtliche Fragestellungen enger miteinander zu verzahnen« (5). Das Spektrum der historischen Konstellationen ist dabei denkbar breit, denn die Religion kommt »einerseits als Movens für Mobilität in den Blick, wobei nicht nur die großen christlichen Konfessionen betrachtet werden, sondern auch das Judentum und der Islam. Andererseits richtet sich das Augenmerk auf den interreligiösen Kontakt als Konsequenz von anders motivierten Mobilitätsprozessen« (ebd.). Alle 16 Beiträge tragen nun auf je eigene Weise dazu bei, jene Wechselbeziehung in ihren unterschiedlichen Facetten differenziert zu beleuchten.
Die dem hohen Anspruch des Bandes zu verdankende Multiperspektivität veranschaulicht exemplarisch der Beitrag von Vera von der Osten-Sacken (41–58), dessen Interesse eben nicht »den Migrationen calvinistischer Flüchtlingsgemeinden« gilt, sondern »die Exile innerhalb des Luthertums« (41) exemplarisch untersucht. Im Mittelpunkt der Studie steht Bartholomäus Gernhards Schrift De exiliis aus dem Jahr 1575, in der die Exilserfahrungen aus dem herzoglichen Sachsen vertriebener Gnesiolutheraner in Form einer theologischen »Reflektion über die Situation der Exilierten« (42) thematisiert werden. Gernhard, selbst Opfer der Vertreibung, un­ternimmt es dabei, die Exilssituation »vor einem heilsgeschichtlichen Horizont« (49) zu deuten, nämlich als »Bekennersituation« (50). Dem Johannesevangelium entnommene dualistische Deutungsmuster aufgreifend werden die Vertriebenen bzw. Exules – ihrem Status als Bekenner entsprechend – der der »Welt« entgegengesetzten »Kirche« zugeordnet, wobei das Exil durch die Gleichsetzung mit peregrinatio eine zusätzliche theologische Aufladung erhält (55–57). Durch die geschichtstheologische Deutung von Vertreibung und Exil »als Ausweis der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Kinder Gottes« trägt Gernhard somit zu einer »Kultivierung des Exils im Luthertum« bei (58).
Die Deutung des Exils als peregrinatio ist nun selbstverständlich kein lutherisches Alleinstellungsmerkmal: Die Studie von Henning P. Jürgens (13–40) arbeitet heraus, dass die Odyssee der nach der Thronbesteigung Königin Marias I. 1553 aus London fliehenden Reformierten von diesen ebenfalls heilsgeschichtlich aufgeladen und dabei als peregrinatio gedeutet werden konnte (39). Auf der Basis der vor dem Hintergrund des Zweiten Abendmahlsstreits entstandenen Simplex et fidelis narratio Jan Utenhoves aus dem Jahr 1560 rekonstruiert Jürgens die in bestimmten Punkten stereotypen Konflikte, in die die reformierten Flüchtlingsgemeinden an den Stationen, die sie anliefen, immer wieder gerieten und die ihnen ein dauerhaftes Verweilen unmöglich machten (33–38). Die Gründe für diese Konflikte müssen eben auch und gerade »in der Verbindung des Selbst- wenn nicht Sendungsbewusstseins der von ihnen vertretenen Theologie … mit der Erfahrung der Migration« gesucht werden (39): »Indem die Flüchtlinge an allen Stationen ihrer Reise ihre Theologie nicht nur verteidigten, sondern zum Teil sogar offensiv vorbrachten und dafür die Konsequenzen auf sich nahmen, bezeugten sie ihr Bekenntnis mit Worten und Taten und sind im wörtlichen Sinn als Konfessions-Migranten anzusehen« (ebd.). In dieser Verbindung sieht Jürgens dann auch das Spezifikum der Theologie der Exulanten, wohingegen die Geflohenen in dogmatischen Fragen »keine eigenständige Theologie« vertraten (38 f.). Damit problematisiert Jürgens folgerichtig den maßgeblich von Heinz Schilling geprägten Begriff der »Exulantentheologie«.
Heinz Schilling hat nun unter dem Titel »Die frühneuzeitliche Konfessionsmigration. Calvinisten und sephardische Juden im Vergleich« (113–136) selbst einen Beitrag zu dem vorliegenden Band beigesteuert, der neben einer bemerkenswerten Analyse des Zu­sam­menhangs zwischen dem regen Interesse an Migrationsgeschichte und den Migrationsphänomenen der zweiten Hälfte des 20. Jh.s (113 f.) einen vielschichtigen Vergleich zweier großer, wirtschaftlich und kulturell bedeutsamer Gruppen vorlegt. Beispielhaft löst der Aufsatz Schillings so den Anspruch des Bandes ein, nicht nur den interkonfessionellen, sondern eben auch den interreligiösen Vergleich zu wagen, indem er calvinistische und jüdische Migranten gleichermaßen in den Blick nimmt und deren Migrationsprozesse auf ihre Analogien hin untersucht. Nach dem Vergleich beider Gruppen unter ganz bestimmten, vor allem so­zioökonomischen und organisatorischen Gesichtspunkten (119. 123.126) – dass bei aller Vergleichbarkeit auch gewichtige Differenzen nicht vernachlässigt werden (z. B. 133), rundet die Analyse ab – kommt Schilling auch auf den Begriff der »Exulantentheologie« zu sprechen: Dieser spricht er im Anschluss an Heiko A. Oberman durchaus auch Originalität in dogmatischen Fragen zu, die sich aus den Erfahrungen von Flucht und Exil speist (134 f.).
Dass das Phänomen der Konfessionsmigration im christlichen Spektrum auch die römisch-katholische Seite betrifft, verdeutlicht der Aufsatz von Bettina Braun (75–112). Die Studie bietet dabei unter anderem einen Überblick über die Gruppen innerhalb der Papstkirche, die im 16. Jh. Migrationsbewegungen unterworfen waren (77–83), wodurch auf in anderen Beiträgen ebenfalls ins Zentrum gerückte Regionen Europas (Niederlande, britische Inseln) eine im Kontext des Bandes zusätzliche Perspektive eröffnet wird.
Auch im Kontext des Beitrages von Bettina Braun zur katholischen Konfessionsmigration verdient die Untersuchung von Thomas Weller zum 1633 in Toledo wegen seiner Missionsversuche im frühneuzeitlichen Spanien hingerichteten protestantischen Kaufmann Johann Avontroot Beachtung (293–321), vermittelt sie doch einen lebhaften Eindruck vom alltäglichen Leben im erzkatholischen Herrschaftsgebiet der spanischen Habsburger, das nicht zuletzt für katholische Flüchtlinge von den britischen Inseln zum Anlaufpunkt wurde (Braun, 81 f.). Gerade mit Blick auf den Zu­sam­menhang von Mobilität und religiöser Identitätsbildung gelangt Weller zu aufschlussreichen Ergebnissen: Die wirtschaftlich motivierte Mobilität von Kaufleuten machte diese – ganz im Gegensatz zu den bisher beleuchteten Gruppierungen, die bewusst aus religiösen Gründen ins Exil gingen oder eben gehen mussten – im fremden Umfeld zu »religiösen Chamäleons« (319). Die auf die Wahrung bestimmter äußerer Formen ausgelegte spanische Konfessionspolitik schuf zwar durchaus »Handlungsspielräume für deviantes Verhalten«, führte bei den meisten protestantischen Kaufleuten jedoch eher zu religiöser Indifferenz (ebd.), was den Fall Avontroots gerade so interessant macht: Dessen erst im Alter ostentative protestantische Identität kostete ihn schließlich das Leben.
Die selektive Besprechung lässt keinen Rückschluss auf die Qualität der nicht erwähnten Beiträge zu. Auch die inhaltliche Breite des Tagungsbandes konnte hier nur angerissen werden. Dennoch: Der anspruchsvollen Problemstellung, der sich der Band verpflichtet weiß, werden die 16 Einzelstudien gerade an- und miteinander gerecht, weshalb man ihm gerade in Zeiten verstärkter migrationspolitischer Debatten zahlreiche aufmerksame Leser wünscht.