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Ausgabe:

März/2012

Spalte:

277–279

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Losansky, Sylvia

Titel/Untertitel:

Öffentliche Kirche für Europa. Eine Studie zum Beitrag der christlichen Kirchen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt in Europa.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2010. 592 S. 23,0 x 15,5 cm = Öffentliche Theologie, 25. Kart. EUR 58,00. ISBN 978-3-374-02765-1.

Rezensent:

Christian Polke

Selten war ein Thema so akut wie aktuell, wie es gegenwärtig Europa ist. Zwar wird vor allem um die Zukunft der europäischen Währung im Zusammenhang der globalen Schuldenkrise gebangt. Doch längst ist allen Beteiligten – Regierenden wie Regierten – klar, dass dies auch Auswirkungen auf die Zukunft des europäischen Projekts haben wird. Da tut es gut, dass, wenngleich mit dem notwendigen Abstand wissenschaftlicher Reflexion, sich auch die Theologie in den letzten Jahren verstärkt Europa als Thema zugewendet hat. Dies ist allerdings kein ganz neuer Trend. Denn Kennern der Theologiegeschichte dürfte nicht entgangen sein, dass der vielleicht bedeutendste liberale Theologe des 20. Jh.s, Ernst Troeltsch, bereits in den 1920er Krisenjahren mit einem veritablen, noch heute bedenkenswerten Europäismusprojekt aufwartete. Doch nun zur Gegenwart.
In Bamberg ist eine Dissertation aus der Feder von Sylvia Losansky entstanden, die sich dem Engagement der Kirchen für Europa widmet, und dies reflektiert aus der Perspektive Öffentlicher Theologie. »Wie oder wodurch kann eine dauerhafte Solidarität zwischen den Europäern entstehen und welche Rolle können die christlichen Kirchen dabei spielen?« (19), so fragt L. einleitend. Die Studie widmet sich dem Beitrag von christlichen Religionsgemeinschaften für den europäischen Zusammenhalt, und von daher darf man ihr eine grundsätzlich ethische Ausrichtung attestieren. Dabei ist sich L. der Gefahren bewusst, die von allzu simplen Forderungen, etwa nach einer »christlichen Seele Europas«, für die religiösen Gemeinschaften wie das politische Projekt ausgehen könnten. Im einen Fall droht eine »Funktionalisierung von Religion« (18) inklusive Abwertung anderer Religionen, im anderen Fall eine sakrale Überhöhung einer politischen Aufgabe. Kirchen sollten sich stattdessen weniger als staatsähnliche Organisationen oder bloße Kultvereine verstehen denn als zivilgesellschaftliche Akteure.
Die Arbeit gliedert sich – nach Einleitung und Forschungsüberblick – in drei Hauptteile, die von Material wie Zuspitzung des Themas unterschiedliche Herangehensweisen bezeugen. Der erste, sozialphilosophisch-sozialethische beschäftigt sich mit drei Konzeptionen einer europäischen Identität. Stellvertretend für die säkulare Seite wird Jürgen Habermas (vgl. 33–61) behandelt. Danach geht L. auf das Wirken Papst Johannes Pauls II. (vgl. 62–96) für die europäische Sache ein. Abschließend befasst sie sich mit Äußerungen und Arbeiten des ehemaligen EKD-Ratsvorsitzenden und langjährigen Heidelberger Sozialethikers Wolfgang Huber (vgl. 97–131). Der mit Abstand größte und zweite Hauptteil des Buches (vgl. 137–419) umfasst detailreiche Analysen des kirchlichen Wirkens auf europäischer Ebene. Dabei geht L. auch den Wechselwirkungen zwischen zunehmender Europäisierung rechtlicher Rahmenbedingungen und deren Folgen für die jeweiligen nationalen Kontexte nach. Ein weiterer Schwerpunkt liegt hierbei auf dem Wirken der EKD. Zur Sprache kommen aber auch wichtige ökumenische Initiativen (Charta Oecumenica) und Institutionen (GEKE) sowie die Politik des Vatikans und der deutschen und europäischen Bischofskonferenz. Im dritten Teil (vgl. 421–450) führt L. dann die beiden Stränge von theoretischem Hintergrund und empirischen Analysen zusammen, resümiert von daher die Europaarbeit der Kirchen und endet mit konkreten Ratschlägen zur Weiterentwicklung kirchlicher Arbeit für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Europa. Am Ende sind dem ein umfassendes Literaturverzeichnis und Sachregister sowie Auszüge aus dem europäischen Verfassungswerk beigefügt.
Exemplarisch sei an dieser Stelle auf drei Punkte der Arbeit L.s eingegangen. Entnommen sind sie den jeweiligen Hauptteilen. Zunächst also zur theoretischen Grundlegung: L. skizziert die Positionen von Habermas, Johannes Paul II. und Huber jeweils mit wohltuender Sympathie, wenngleich schon die Reihenfolge ihrer Anordnung vermuten lässt, wem dabei die größten Sympathien gelten. Insofern haben wir es mit einer dezidiert protestantischen Stimme in der Debatte zu tun, und dazu passt auch die Selbstverortung L.s im Rahmen des Konzepts einer Öffentlichen Theologie. Das hat Konsequenzen. Während zu Recht auf die Ambivalenzen der Menschenrechtspolitik des Vatikans hingewiesen und ein rein pejoratives Verständnis von Säkularität abgewiesen wird, wird bei Ha­ bermas moniert, dass er sich ausschließlich auf säkulare vor-poli­tische Ressourcen der Vertrauensbildung für den europäischen Zusammenhalt konzentriere (vgl. 59). – Dabei sei allerdings als Ne­benbemerkung die Frage gestattet, ob hinsichtlich des letzten Punktes nicht bestimmte Differenzen zum Pontifikat Benedikts gegeben sein könnten, der freilich als Europatheoretiker nur am Rande erwähnt wird (vgl. 62 f., Anm. 118). – Für beide in der Tat zutreffenden Kritiken vermisst man aber ein Pendant bei der Darstellung und abschließenden Zusammenschau Hubers. Könnte es aber z. B. nicht sein, dass zumindest das von L. erwähnte Programm der »Ökumene der Profile« (vgl. 126 ff.) in Spannung steht zu dem für den Protestantismus strukturellen Problem, wie eine sinnvolle Plattform für eine konzertierte Europapolitik der Kirchen aussehen könnte – wenngleich diese Frage anklingt, etwa auf 122 ff. 124 ff.?
Der zweite Gesichtspunkt, den ich hervorheben will, betrifft die Art des Zugriffs und der Darstellung im empirischen Teil der Arbeit. Allein das dabei berücksichtigte Material fordert großen Re­spekt ab. L. beleuchtet alle wesentlichen Punkte des vielschichtigen Prozesses der europäischen Einigung mit Hinblick auf Aufgabe, Rolle und Wirken der Kirchen (die Umbrüche der 1990er, Grundrechte­charta, Verfassungsvertrag, soziale Dienstleistungen und Wettbewerbspolitik). Der Entstehung und dem Verhalten der ent­scheidenden Akteure (EKD, KEK, GEKE, Rat der europäischen Bischofskonferenzen, europäische Zusammenschlüsse der Wohlfahrtsverbände etc.) wird dabei großes Gewicht beigemessen. So gesehen ist der Informationsgewinn nach der Lektüre enorm. Was man allerdings etwas vermisst, ist eine kritische Reflexion auf die Politiken und die damit verbundenen Widerstände, mit denen es die einzelnen religiösen und politischen Interessengruppen zu tun bekamen. Gewiss, eine empirische Analyse soll zunächst Daten, Prozesse und Kontexte erheben und beschreiben, aber sie kommt doch nicht ohne hermeneutische Stoßrichtung aus. Und genau diese ist ja auch bei L. gegeben, wie der dritte Hauptteil deutlich macht.
Dort listet L. ihre bereits zuvor (in Teil I) erarbeiteten, zum Teil sehr disparaten 14 Kriterien für eine ethisch-theologische Beurteilung der Europaarbeit der Kirchen auf. Diese lauten wie folgt: »Evangeliums-/Schriftgemäßheit, Kritische Konstruktivität, Sachgemäßheit und Interdisziplinarität, Einsatz für Menschenwürde, Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit, Thematisierung der Wahrheitsfrage, Bilingualität, Anerkennung des religiös-weltanschaulichen Pluralismus, Anerkennung der Säkularität der poli­-tischen Institutionen und der Verfassungsordnung, Berücksichtigung kirchlicher Strukturen und Aufgaben, Ökumene der Profile, Rechter Zeitpunkt, Kontinuität und Kohärenz der Positionen/ Argumente, Unterscheidung verschiedener Verlautbarungstypen, Öf­fentlichkeitswirksamkeit/ Mediennutzung« (424 f.) Man erkennt sofort, dass sich eine abschließende Bewertung der gegenwärtigen Lage kirchlicher Europapolitik vor diesem Hintergrund im Allgemeinen halten wird. Das gilt auch für die durchaus überzeugenden je fünf Ratschläge an die Kirchen, an Wirtschaft und Politik, Me­dien und Bürger, die dem beigefügt sind (vgl. 438 ff.). Um auch hier mit einer vielleicht sehr schlichten Frage zu enden: Könnte es sein, dass eine stärkere Auswahl im Zugriff der Akteure und hinsichtlich der Problemstellung der Profilierung des eigenen Ansatzes gut getan hätte? Zudem fällt der doch sehr stark auf Institutionen fokussierte Ansatz der Arbeit auf. Die Verantwortung der unterschiedlichen (individuellen!) Eliten hinsichtlich ihrer europäischen Gemeinwohlorientierung wird wohl erwähnt (etwa in den erwähnten fünf Ratschlägen), bleibt demgegenüber aber ein wenig konturlos.
Diese Bemerkungen samt ihren kritischen Anfragen schmälern die Leistung dieser Arbeit in keiner Weise, verstehen sie sich doch als Ansatzpunkt für die weitergehende Diskussion. Wer sich dem Europathema in seiner theologischen, insbesondere seiner ekklesiologischen und ethischen Relevanz widmen möchte, kann an L.s Buch nicht vorbeigehen. Was will man mehr von einer »Orientierungs- und Urteilshilfe aus sozialethischer Perspektive« (11) verlangen?