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Ausgabe:

Februar/2012

Spalte:

253–254

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Leonhardt, Rochus [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Aktualität der Sünde. Ein umstrittenes Thema der Theologie in interkonfessioneller Perspektive.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt (Frankfurt a. M.: Lembeck) 2010. 215 S. 21,3 x 15,0 cm = Beihefte zur Ökumenischen Rundschau, 86. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-374-02973-0.

Rezensent:

Christina Costanza

Wenngleich als Dokumentation einer Tagung (des Interkonfessionellen Theologischen Arbeitskreises im Jahre 2009) mit den unterschiedlichsten Beiträgen zum Thema erschienen, hat der Sammelband insofern einen inneren Zusammenhang, als die Beiträge gemeinsam auf die hohe phänomenologische Erschließungskraft christlicher Sündenlehren für die Situation der Gegenwart hinweisen. Somit verspricht der Obertitel des Bandes nicht zu viel: der »Aktualität der Sünde« – d. h. der Aktualität des Sündenbegriffs als gegenwartsdiagnostisches Instrument – nachzugehen. Im Folgenden wird in einer systematischen Zusammenschau auf jene drei Aspekte hingewiesen, die m. E. für eine gegenwartsorientierte Re­-plausibilisierung der christlichen Sündenlehre besonders relevant sind.
1. Ein durch den Dialog mit der philosophischen Anthropologie differenzierter Sündenbegriff verhilft dazu, die »Nachtseiten des Menschen« (180) religiöser Deutung zu unterziehen und diese auch gegenüber nichtchristlichen Wirklichkeitssichten plausibel zu machen. Exemplarisch wird dies an den Phänomenen Angst, Imitation und Gewalt sichtbar: Nach R. Miggelbrink lässt sich das Abweichen des Menschen vom Guten über den »Reflex auf die prinzipielle Unbegrenztheit menschlicher Intellektualität« (56) be­gründen, welcher sich in Angst (E. Drewermann im Anschluss an Kierkegaard) oder in der Imitation anderer Menschen (Mimetische Theorie im Anschluss an Girard) äußert. R. Leonhardt bringt W. Sofskys anthropologische Gewalttheorie in Dialog mit H. Blumenbergs Deutung der menschlichen Phylogenese auf die »Endlichkeit menschlicher Weltdistanz« hin, welche Leonhardt als »Gebrochenheit« bezeichnet (186). Während die Weltdistanz das Analogon zur Gottebenbildlichkeit ist, wird Sünde beziehbar auf das »Unbehagen an der Differenz zwischen faktischer Gottebenbildlichkeit und denkbarer Gottgleichheit« (190), mithin auf das menschliche »Aseitätsstreben« (191). Impliziert ist eine Kritik an der klassischen Lehre vom status integritatis als einem ursprünglich vollkommenen Zustand des Menschen – die »anthropologische Verwurzelung der Sünde« ist vielmehr zur Gottebenbildlichkeit des Menschen hinzuzudenken »wie die Gebrochenheit zu seiner Weltdistanz« (193).
2. Die Sündenlehre hat freiheitstheoretische Valenz, d. h. birgt Erschließungspotential für Phänomene und Strukturen menschlichen Freiheitsgebrauchs. So zeigt R. Miggelbrink in verantwortungsethischem Zugriff katholische Perspektiven einer aufgeklärten Freiheitskonzeption auf: »Moralität verwirklicht sich statt in der affirmativen Freiheit des Gehorsams in der kreativen Freiheit sinnbestimmter Gestaltung« (43) und Sünde in der Abweichung davon. B. Nitsche erläutert, wie die Anliegen der katholischen Erbsündenlehre im Blick auf »den Problemstand des modernen Freiheitsdenkens« (65) – besonders Kants – reformuliert werden können, wobei er die Sünde als »Selbstverfehlung der Freiheit« (67) be­greift. T. Kleffmann deutet terminologisch und gedanklich an Hegel an­schließend Sünde subjektivitätstheoretisch als »Verkehrung des menschlichen Selbstverhältnisses« (145) und erschließt so vernunftplausible Umbildungsmöglichkeiten der Erbsündenlehre.
3. Traditionelle Aussagen über die Sünde als Macht und Verstri­ckungszusammenhang werden aufschlussreich, wenn die Sünde als strukturelle Sünde begriffen, d. h. wenn die soziale bzw. ethische Dimension des Sündenthemas in den Blick genommen wird. Nach R. Miggelbrink stellt die klassisch katholische hamartiologische »Konzentration auf die böse Tat« (41) entgegen einer vorschnellen protestantischen Kritik an der Tatsündenlehre die »ob­jektiv schädigende Wirkung der Sünde« (48) heraus. B. Nitsche ersetzt im Anschluss an P. Schoonenberg und die Befreiungstheologie die biologistische Vorstellung der Erbsünde durch den »Ge­danke[n] einer sozialen oder strukturellen Vermittlung« und expliziert so »die interpersonale Dimension« (77) der Sünde. R. Dziewas verdeutlicht an den im 20. Jh. einsetzenden Transformationen des freikirchlich-baptistischen Sündenverständnisses, wie die Rede von der »Sündhaftigkeit der Welt« (101) in Dialog mit der Luhmannschen Theorie autopoietischer Systeme eine gesellschaftskritische Rede von der Sünde begründet. U. Link-Wieczorek sprengt in ihrer Interpretation der Anselmschen Satisfaktionslehre die einschlägige Fixierung auf die »Dramaturgie des vor und an Gott schuldig gewordenen Menschen« (122) auf. Sünde hat bei Anselm nicht lediglich negative Wirkungen im sozialen und kreatürlichen Bereich, sondern die Störung der Gottesbeziehung, welche Sünde ist, besteht in Verkehrungen in jenem sozial-kreatürlichen Bereich, die nicht wieder gut zu machen sind und dennoch Wiedergutmachung fordern, wie an politischen und juristischen Beispielen gezeigt wird. Auch die gendertheologische Perspektive, die H. Kuhl­mann einbringt, weist der Sündenlehre zahlreiche Orte in den sozialen Lebenswelten der Gegenwart zu. – Für die unter 3. besprochenen Zugangsweisen ist die Frage nach dem Verhältnis der grundlegenden Verkehrung im Selbstverhältnis, wie sie durch die Lehre von der Erbsünde erfasst wird, zu konkreten Phänomenen, die als Manifestationen derselben zu begreifen sein sollen, freilich von zentraler Bedeutung.
Insgesamt bietet der Sammelband vielfältige Anregungen für die Beschäftigung mit der Sündenlehre vor allem in ihren neuzeitlichen Gestalten und mit außertheologischen Beiträgen zu jener Wirklichkeit, die die christlichen Glaubenslehren verschiedener Konfessionen unter den Begriff »Sünde« bringen.