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Ausgabe:

Februar/2012

Spalte:

247–249

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Gabriel, Ingeborg, u. Cornelia Bystricky [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kommunismus im Rückblick. Ökumenische Perspektiven aus Ost und West (1989–2009).

Verlag:

Ostfildern: Matthias-Grünewald 2010. 332 S. 22,0 x 14,0 cm. Kart. EUR 25,00. ISBN 978-3-7867-2851-1.

Rezensent:

Hans G. Ulrich

Neben mehreren Publikationen des Matthias-Grünewald-Ver­lages in Ostfildern, die ökumenische und europäische Dialoge und Diskurse zu einer »ökumenischen Sozialethik« wiedergeben und weiter vorantreiben, hat Ingeborg Gabriel zusammen mit Cornelia Bystricky auch den höchst aufschlussreichen Band »Kommunismus im Rückblick« auf den Weg gebracht. Die bisherige Reihe umfasst: Gabriel, Ingeborg; Papaderos, Alexandros K., Körtner, Ulrich H. J. (Hrsg.) (2006): Perspektiven ökumenischer Sozialethik. Der Auftrag der Kirchen im größeren Europa. 2. Aufl.; Gabriel, Ingeborg (Hrsg.) (2007): Solidarität und Gerechtigkeit. Ökumenische Perspektiven; Gabriel, Ingeborg (Hrsg.) (2008): Politik und Theologie in Europa. Perspektiven ökumenischer Sozialethik.
Der Band »Kommunismus im Rückblick« beruht auf einer ökumenischen Tagung (2009) und bietet die dort gehaltenen Referate zusammen mit zum Teil dichten Diskussionen. Ingeborg Gabriel umschreibt in ihrem eigenen Beitrag eine umgreifende Aufgabenstellung für eine »ökumenische Sozialethik«. Das betrifft zunächst die Anforderung an die Sozialethik, die gesellschaftlichen und politischen Kontexte in ihrer historischen Dimension in die sozialethische Reflexion und Theoriebildung einzubeziehen. Damit wird ein offenkundiges Defizit sozialethischer Diskurse benannt, das nicht zuletzt den Kontext betrifft, der in diesem Band differenziert behandelt wird: die Entwicklung nach dem mit 1989 markierten Ende kommunistischer europäischer Staaten. Die Frage ist, wie das vom Kommunismus geprägte Stück Geschichte, sein Ende und seine Folgen in der christlichen Sozialethik präsent sind und sie inhaltlich bestimmt haben und weiter bestimmen. Der Blick auf eine »ökumenische« Sozialethik schließt hier römisch-katholische, protestantische, insbesondere reformierte, und verschiedene or­thodoxe (russisch-orthodoxe, rumänisch-orthodoxe, griechisch-orthodoxe) Traditionen bzw. Kirchen ein.
Die hier thematisierte Sozialethik ist zugleich »europäisch«, also eine »europäisch-ökumenische« Sozialethik, wie sie sich in der Zusammenschau von Ost und West »nach dem Kommunismus« abzeichnet – geleitet von der Frage, wie die Vergangenheit in den kommunistischen Staaten als »Geschichte« erinnert und geschrieben wird, wie die darin enthaltene Schuldgeschichte erscheint und welche Folgerungen sich daraus für die weitere Entwicklung einer »ökumenischen Sozialethik« ergeben. Eingeschlossen ist die Frage, wie dies als »Kirchengeschichte« zu fassen ist. Mit dieser Aufgabenstellung ist eine Reihe von spannungsvollen Problemen verbunden, die hier zur Klärung vorgestellt und diskutiert werden. Gab­riel gibt die grundlegende Frage nach einer »europäischen Erinnerungskultur« vor, die für ein politisches Europa notwendig ist. Sie sieht Perspektiven und Wege für eine solche Erinnerungskultur – und den hier vorliegenden Band kann man selbst als Dokument einer gemeinsamen Arbeit an der Erinnerung betrachten, das heißt einer Erinnerung im Medium einer historisch-theologischen Verständigung im Blick auf die verschiedenen Kirchen in den gesellschaftlichen und politischen Kontexten, ihre Funktionen und Aktivitäten. Kirchengeschichte erscheint hier im Medium einer Erinnerungspraxis, deren Konturen noch allenthalben zu bestimmen sind.
Es zeigt sich in verschiedenen Beiträgen – wie in dem aus Polen (Joachim Piecuch) und dem aus Rumänien (Paul Brusanowski) –, wie weit entfernt eine gemeinsame Erinnerungsarbeit oder gar ein gemeinsames (kollektives) Gedächtnis oder ein gemeinsames Narrativ ist. Dass ein solches zu erreichen ist und ob ein solches anzustreben ist, wird in einigen Beiträgen infrage gestellt – trotz der gegebenen Einigkeit darüber, dass es eine Praxis der Verständigung geben muss, also das, was Gabriel als »Erinnerungskultur« an­spricht. Mit dieser Frage verbunden ist die nach der »Schuld«, um deren Erinnerung oder Bearbeitung es gehen muss. Thomas Hoppe zeigt, mit welchen Differenzierungen diese Frage zu behandeln ist, wie die Unterscheidung zwischen der politischen und der mora­-lischen Bedeutung von Versöhnung, auch zwischen menschlicher Versöhnungspraxis und der eschatologischen Hoffnung auf Ge­rechtigkeit zu treffen ist. So wird auch der Blick auf die Opfer eingebracht. Das Problem einer »kollektiven« Schuld wird gleichermaßen in verschiedenen Beiträgen differenziert diskutiert, so auch die Unterscheidung zwischen persönlicher Verschuldung und systemischen und anderen Folgen solcher Verschuldung ( Sándor Farakas). So werden notwendige Unterscheidungen eingeführt und für die weitere Diskussion bereitgestellt. Entsprechendes gilt für die Frage nach der rückblickenden und gegenwärtigen Stellung zum »Kommunismus« oder »Marxismus« und »Sozialismus«. Das be­trifft auch die Diskussion um den Kommunismus als Ideologie und/oder als »politische Religion«. Auch wenn der Begriff »poli­-tische Religion« umstritten bleibt (siehe die Einwände von Gab­riel), unterstreichen einige Beiträge den »religiösen« Anspruch kommunistischer (marxistischer) Ideologie und die damit gegebene Di­mension der Herausforderung.
Die Frage, wie die christliche Sozialethik überhaupt ihre Konturen in dem angezeigten Zeitraum gewonnen hat, wird in der Darstellung der Geschichte der Sozialethik deutlich (Wolfgang Thönissen). Die Entwicklung der Sozialethik wird daraufhin skizziert, dass die Sozialethik ein spezifisch theologisches Verständnis von Säkularität und von Freiheit entwickelt hat, das sie als Sozialethik leitet und mit »der Moderne« verbindet, dass sie aber zugleich mit der Frage konfrontiert ist, wie ein mit »der Moderne« verbundener »Pluralismus« zum Signum auch einer ökumenischen Sozialethik werden kann. Wie die christliche Sozialethik zur inhaltlichen Substanz und zum kritischen Potential des Marxismus oder Sozialismus steht, thematisiert Ulrich Körtner. Er skizziert, wie sich die inhaltliche Ausrichtung der protestantischen und reformierten Sozialethik mit sozialistischen Perspektiven verbindet und so die Wahrnehmung des Sozialismus als Ideologie überschreitet. Wie sich Sozialethik zu sozialistischen Konzeptionen verhält, bleibt so zu Recht im Blick­feld. So werden auch in dieses Thema notwendige Unterscheidungen eingebracht, die die christliche Sozialethik kennzeichnen.
Die hier versammelten Beiträge dokumentieren eindringlich, welche verschiedenen Wege der Verständigung und Erinnerung hier zusammenlaufen und zusammenlaufen müssen, um einer »ökumenischen« Sozialethik näher zu kommen, die auf dem realen Prozess einer Verständigung zwischen verschiedenen kirchlichen, theologischen und historischen Kontexten beruht. Einen solche in Gang gesetzt und dokumentiert zu haben, ist das besondere Verdienst dieses Bandes. Darüber hinaus vermittelt der Band ein Spektrum von Themen, die zur inhaltlichen Substanz der christlichen Sozialethik gehören. Auch darin besteht ein ökumenisches Ergebnis. Die angesprochenen Themen werden zugleich mit solchen Unterscheidungen aufbereitet, die sowohl bestehende Diskurse (wie der um die kollektive Schuld und die Praxis der Versöhnung) bestimmen als auch weiterzuführen sind. Eine »ökumenische Sozialethik« wird die verschiedenen historischen und konfessionellen Kontexte präsent halten, und zwar in einer gemeinsamen Verständigungs- und Er­innerungspraxis, die die Vielschichtigkeit und Vielgestalt der »Ge­schichte«, die hier begegnet, bewahrt und zugleich zeigt, wie durchaus an dieser »Geschichte« noch gemeinsam zu arbeiten ist.