Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/2012

Spalte:

245–247

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Büsching, Anton Friedrich

Titel/Untertitel:

Geschichte der evangelisch-lutherischen Gemeinen im Rußischen Reich. Eingel. u. komm. v. H. Tschoerner.

Verlag:

Erlangen: Martin-Luther-Verlag 2011. 338 S. m. Abb. u. Tab. 20,3 x 14,5 cm = Beiträge zur Geschichte der evangelisch-lutherischen Kirche Russlands, 7. Kart. EUR 23,00. ISBN 978-3-87513-169-7.

Rezensent:

Adolf Martin Ritter

Der Autor des nach über 240 Jahren erstmals wieder zugänglich gemachten Buches ist so interessant wie das hier vorzustellende Buch selbst! Darum zunächst ein Wort über ihn.
1724 in Stadthagen (Schaumburg-Lippe) geboren und in seiner Jugend vom hallischen Pietismus an dessen Ursprungsort geprägt, wirkte Anton Friedrich Büsching von 1767 an bis zu seinem Tod im Jahr 1793 als Direktor des berühmten Gymnasiums »im grauen Kloster zu Berlin, und der dasigen und cölnischen Schule« sowie als »königl. preuß. Oberkonsistorialrat« (s. die Titelseite von Teil 2 des Buches, 207), an der Seite so namhafter Aufklärungstheologen wie J. S. Diterich, F. S. G. Sack, J. J. Spalding und W. A. Teller. Zuvor hatte er sich, kaum zwei Jahre nach seiner Berufung zum ordentlichen Professor der Philosophie in Göttingen, zur Übernahme der 2. Pfarrstelle an der Petrikirche in St. Petersburg einladen lassen, mit der die Leitung der bald darauf (von Katharina II.) kaiserlich privilegierten »Schule der Sprachen, Künste und Wissenschaften bei der evangelischen St. Peterskirche« (s. 170) verbunden war. Rastlos tätig, um diese Schule nach den damals modernsten Erkenntnissen zu reformieren (vgl. das eindrucksvolle Programm, 171–176), vermochte er binnen kurzer Zeit die Schülerzahl auf über 300 zu steigern, stieß allerdings im gemeindeleitenden »Kirchenconvent« wie bei dem von ihm an sich hochgeschätzten Patron, dem Reichsgrafen und Feldmarschall Burchard Christoph von Münnich, auf Widerstand, so dass er schon nach vier Jahren seine beiden Ämter, Pfarramt und Schulleitung, niederlegte, nicht bereit, seine pädagogischen Grundsätze zur Disposition zu stellen. Es spricht für ihn, dass er auf diesen Konflikt schon bald danach zwar wehmütig, aber nicht verbittert zurückzublicken vermochte (s. 167–169.330 f.) – trotz der Ungewissheit, in die er ihn und seine Angehörigen fürs Erste stürzte.
In Altona, wo er mit seiner Familie für etwa ein Jahr Zuflucht fand und – ohne feste Anstellung, sozusagen als Privatgelehrter – sich der wissenschaftlichen Schriftstellerei hingab, gelang es ihm u. a., seine Forschungen zur Geschichte des Luthertums in Russland bis in seine Gegenwart abzuschließen und in zwei Teilen 1776/77 im Verlag David Iversen-Altona zu veröffentlichen, wozu er das Material während seiner Amtszeit in St. Petersburg hatte sammeln können. Dass sich der ungewöhnlich vielseitig interessierte und begabte Mann auch als Historiker betätigte, hatte einen triftigen Grund. Er tat es, wie er in der Vorrede zum 2. Teil offen ansprach, um der »Gemeinen« willen, denen »viel daran gelegen« war und sein musste, »ihren Ursprung, ihre Privilegien und Veränderungen zu wissen, denn es können Zeiten und Fälle kommen, da sie alles dieses darthun müssen«, d. h. da man von ihnen Belege verlangt (209). Denn es waren, was er verständlicherweise nicht ansprach, politisch durchaus bewegte Zeiten, über die Bericht zu erstatten war: Im zweiten Jahr seines Aufenthaltes erlebte St. Petersburg einen zweimaligen Thronwechsel und drei ganz unterschiedliche Träger der Zarenwürde (Elisabeth I., Peter III., Katharina II.), was gewiss auch allerlei Unsicherheiten hinsichtlich des Status der Ausländergemeinden zur Folge hatte. Dem entsprechend hat B. gewissenhaft recherchiert und später seiner Geschichtsdarstellung immer wieder Urkunden und andere authentische Zeugnisse über die Entstehung erster evangelisch-lutherischer Gemeinden in der Residenzstadt wie an anderen Orten des Zarenreiches beigefügt, ohne dass die Grenze zur reinen Dokumentensammlung überschritten worden wäre. Vielmehr gewährt sein zweibändiges Werk einen zum guten Teil aus eigener Anschauung geschöpften Einblick in das innere Leben vor allem der Petersburger St. Petri- und auch der St. Annen-Gemeinde, gibt Informationen über ihre Probleme, führende Persönlichkeiten, Laien wie Theologen, erste An­sätze von Leitungsstrukturen, Statistiken (»der Gebohrnen, Gestorbenen und Copulirten« [33 u. ö.]) etc. und verbindet das mit allen B. verfügbaren Nachrichten aus anderen russischen Orten (Moskau, Archangelsk, Astrachen und vielen anderen mehr).
Eingeleitet wird das Ganze durch einen – wie immer sorgfältig belegten – Gesamtüberblick über das (vor allem deutsche) Luthertum in Russland (34–56) vom 16. bis zum 18. Jh., aus dem bereits sehr deutlich hervorgeht, welchen geschichtlichen Faktoren sich die Ansiedlungen von Deutschen im Zarenreich hauptsächlich verdankten und wie sie sich zusammensetzten. Danach lassen sich deren Anfänge auf die Zeit Ivans IV., »des Schrecklichen« (eigentlich: »des Gestrengen« [† 1584]), datieren, der in größerem Umfang deutsche Handwerker, Künstler und Gelehrte ins Land zog und unter dem auch vor den Toren Moskaus die erste lutherische Kirche in Russland errichtet wurde, von der wir wissen. Erst recht war Peter I., d. Gr. (1682–1725), »darauf bedacht …, den Kriegsstaat, den Handel und die Künste in seinen weitläufigen Staaten aufs möglichste in Aufnahme zu bringen, und sich dazu der Dienste der Ausländer zu bedienen«. In diesem Zusammenhang sicherte der Zar das »freye Exercitium religionis aller anderen, obwol mit unserer (sc. der orthodoxen) Kirche nicht übereinstimmenden christlichen Sekten« zu (38), vorausgesetzt, es unterbleibe jegliche öffentliche Polemik gegen Andersgläubige.
Für einen Mann wie B. stellte das keinerlei Zumutung dar, sondern entsprach ganz seinem irenischen Naturell, zumal er sich inzwischen vom Pietisten Hallenser Prägung zum Anhänger einer milden, offenbarungsgläubigen Aufklärung entwickelt hatte und also auch zur Überzeugung gelangt war, dass eine »von Menschensatzungen« gereinigte, »blos biblische(n) dogmatische(n) Theologie« das Beste wäre (142). So erschien ihm denn auch die »freundschaftliche Harmonie, in welcher hieselbst (gemeint: in Archangelsk) die lutherische und reformirte Gemeinde mit einander leben«, als »rühmlich und musterhaft« (306). Ja, es fiel selbst ein mildes Licht auf die orthodoxe Mehrheitsreligion in Russland, der er nicht nur nachrühmte, dass sie »von dem Verfolgungsgeist, welcher der römisch-katholischen Kirche eigen ist«, meilenweit entfernt und in dieser Hinsicht »allen christlichen Kirchen oder Partheyen ein erbauliches Beyspiel und Muster zur Nachfolge« sei (30), sondern der er auch so viel Achtung entgegenbrachte, dass er keinen Augenblick zögerte, auch viele russische Kinder zu seiner Lehranstalt zuzulassen, und ihm »sehr daran gelegen« war, »daß sie auch in der christlichen Lehre«, d. h. in diesem Fall: im orthodoxen Glauben, »unterrichtet werden möchten« (215). Im Übrigen sind seine Urteile über die russische Orthodoxie so, wie er sie erlebte (s. 210–215), nicht unkritisch, aber auch nicht undifferenziert und schon gar nicht überheblich.
Ein Lob des für die Neuvorlage des Buches Hauptverantwortlichen, H. Tschoerner, der sich schon mit seinen in derselben Reihe desselben Verlages vorgelegten verschiedenen Publikationen zum Luthertum in Russland, seinen Kirchenordnungen und Einrichtungen längst als Fachmann erwiesen hat, beschließe diese Vorstellung. Seine »Editorische Vorbemerkung« (8), »Einleitung« (9–25) und über die Publikation hin verstreuten Erläuterungen lassen wenige Wünsche offen. Ich stimme mit ihm auch darin überein, dass B.s Buch »einen wesentlichen Beitrag für die Erforschung der Entstehungszeit evangelischer Gemeinden im Russischen Reich geleistet« hat und zugleich als bedeutende historische Quelle für alle gelten kann, die sich mit der Geschichte der heutigen Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland befassen möchten. Es stellt ferner der wissenschaftlich-historischen und literarisch-biographischen Begabung B.s ein schönes Zeugnis aus (26) und verdient, füge ich hinzu, endlich, von den an der Geschichte Russlands im 18. Jh. Interessierten wie auch von den mit der Integration und seelsorgerischen Betreung von Russlanddeutschen hierzulande Befassten zur Kenntnis genommen zu werden.