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Ausgabe:

Februar/2012

Spalte:

241–243

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kuhlmann, Sebastian

Titel/Untertitel:

Martin Niemöller. Zur prophetischen Dimension der Predigt.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2008. 385 S. 23,0 x 15,5 cm = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 39. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-02643-2.

Rezensent:

Helmut Schwier

Das Buch ist die Dissertation Sebastian Kuhlmanns, die an der Heidelberger Predigtforschungsstelle, in der ein großer Teil des Predigtnachlasses Niemöllers archiviert ist, begonnen wurde (Betreuer: Christian Möller) und nach Übernahme einer Assistentenstelle in Münster zum Abschluss kam (Betreuer: Wilfried Engemann).
Martin Niemöller (1892–1984), eine der prominentesten Gestalten im Kirchenkampf und eine der umstrittensten im Nachkriegsdeutschland, hat selbst nie den Anspruch erhoben, prophetisch zu predigen. Dennoch ist ihm dies von unterschiedlichen Seiten zugeschrieben worden. Was »prophetisch predigen« eigentlich ist und dass es verunklärt, dieses einfach mit der politischen Predigt zu identifizieren, macht K. deutlich. Er definiert: »›Prophetische Predigt‹ ist eine Predigt, die in Zeitgenossenschaft bei vorhandener Zukunftsintuition sich nicht weisheitlich äußert, sondern von der prophetischen Äußerungsform Gebrauch macht, in dem Bewusstsein, dass ihr nicht-diskursiver Stil Widerstände provoziert und Risiko bedeutet – für sich, für die Gemeinde, für andere« (108). In dieser Definition, die auch exegetische und kirchengeschichtliche Einsichten aufnimmt, ist ein erster Unterschied zu politischen Predigten durch den nicht-diskursiven Stil und den weisheitlichen Impetus markiert, die ihrerseits Gegenwartsanalyse mit die Zukunft betreffenden Handlungsanweisungen verbinden, während prophetische Rede nach K. aus einer Zukunftsgewissheit die Gegenwart analysiert und für sie Handlungsanweisungen fordert. Später wird der Unterschied durch die Kategorien der Situationsdeutung (Prophetie) und der Situationsgestaltung (Politik) stärker profiliert (334 f.).
In klarer Gliederung stellt K. zunächst die Biographie Niemöllers vor und kennzeichnet die Kontexte der später untersuchten Predigten (25 ff.); es folgt ein Überblick zum Verständnis von Prophetie (75 ff.) und als Hauptteil die detaillierte Analyse von acht dokumentierten Predigten aus unterschiedlichen Zeiten (111 ff.); abschließend folgen transaktionsanalytische Untersuchungen (283 ff.), die in Kriterien prophetischer Predigt (336 ff.) und eine kritische Nachlese (341 ff.) münden. Der Anhang bietet eine Zusammenfassung in englischer Sprache, das Literaturverzeichnis samt Angaben der zahlreichen Texte Niemöllers und ein ausführliches Sach-, Orts- und Personenregister (349–385).
Verständlicherweise greift K. bei der Biographie nicht auf eigene Forschungen und Archivstudien zurück, sondern auf die wissenschaftlichen Biographien von Dietmar Schmidt (1983), James Bentley (1985) und Mathias Schreiber (1997) sowie die Dokumentation der Ausstellung »Protestant – Das Jahrhundert des Pastors Martin Niemöller«, die 1992 vom Ev. Presseverband in Hessen-Nassau herausgegeben wurde. Auch der inzwischen als DVD erhältliche Dokumentarfilm »Rebell wider Willen« (2003), der zahlreiche Interviewpassagen mit Niemöller kurz vor dessen Tod wiedergibt, wird verwendet. Im Ergebnis entsteht so eine sehr gut lesbare, ca. 40-seitige Biographie Niemöllers, die die wichtigsten Stationen ohne größere Überraschungen nachzeichnet. Nicht unerwähnt bleiben soll hier der Hinweis, dass der später bedeutende Redner Niemöller, als U-Boot-Kapitän schon berühmt und militärisch erfahren, beim anschließenden Theologiestudium die Angst verspürte, vor großen Gemeinden zu predigen; er überwand diese Angst durch regelmäßiges Üben in Wuppertaler Gemeinden (vgl. 34, Anm. 43). Insgesamt wird die Entwicklung Niemöllers und seine Bereitschaft zu neuen und verändernden Einsichten hervorgehoben.
Die acht ausgewählten Predigten wurden 1931 (Dahlem, An­trittspredigt), 1934 (Dahlem, nach der Barmer Synode), 1937 (Dahlem, letzte Predigt vor der Verhaftung), 1944 (KZ Dachau, Weih­-nachtspredigt), 1945 (Dahlem, Kontext der EKiD-Gründung), 1946 (Marburg, nach dem Stuttgarter Schuldbekenntnis), 1954 (Frankfurt, Radiopredigt) und 1962 (Helsinki, ÖRK) gehalten. Als neunte Rede analysiert K. die sog. Kasseler Rede von 1959 zur Frage der Atomwaffen und des Pazifismus. K. dokumentiert die Predigten und analysiert sie mit wiederkehrenden Fragen nach der Funktion des Bibeltextes, dem Subjekt des Predigers, der Hörersituation, der in den Predigten zutage tretenden Theologie und den prophetischen Potentialen. An die synchrone Analyse schließt sich eine diachrone Untersuchung der theologischen Themen an, die später bei Niemöller und in der Fachdiskussion eine Rolle spielten. K. zeigt, dass und wie vielfältig Niemöller mit den Bibeltexten predigt und sehr stark Gleichzeitigkeit durch Situationsanalogie und Aktualisierung der Text-und Bildwelten herstellt. Häufig sind auch mehrere Bibeltexte präsent, so dass, modern gesprochen, biblische Intertextualität homiletisch genutzt wird. Das Subjekt des Predigers ist meist wenig direkt greifbar – das war bei den Predigten zu erwarten, ist in der politischen Rede Niemöllers deutlich anders, die allerdings weniger prophetisch als weisheitlich-diskursiv wirkt–, allerdings sind dadurch die beiden Ausnahmen, die An­trittsrede in Dahlem und vor allem die letzte Predigt vor der Verhaftung, besonders hervorstechend und eindrucksvoll. Im Blick auf die Hörersituation gilt dieses Urteil vor allem für die Weih­-nachtspredigt im KZ und die Predigt im Kontext des Stuttgarter Schuldbekenntnisses, weil es Niemöller hier gelingt, mit dem biblischen Text die Situation zu klären und in veränderter Perspektive zu zeigen – und dies gleichzeitig in existentieller Bedrohung und Anfechtung. An prophetischen Potentialen analysiert K. das Einstehen mit der ganzen Person, die Entweder-oder-Situation, das Zeugnis unter Lebensbedrohung, die Kultkritik, die Gerichtsankündigung, die Rede gegen falsche Prophetie, die realistische Ge­genwartsanalyse. Die entdeckten theologischen Themen – Predigtverständnis, Barmer Theologische Erklärung, Obrigkeit, Absage an den kirchlichen und nationalen Partikularismus, Ekklesiologie, Stuttgarter Schuldbekenntnis, Pazifismus – werden mit der Predigtanalyse verbunden und weiterführend in historischen und fachgeschichtlichen Kontexten reflektiert. Dies bleibt an einigen Stellen allerdings zu überblicksartig. Bei der Barmer Theologischen Erklärung profiliert K. die Position Niemöllers antithetisch durch die Abgrenzung gegenüber Althaus und dem Ansbacher Ratschlag (vgl. 139 ff. 154); dies ist natürlich einerseits möglich (und naheliegend), und K. zeigt später en passant eine interessante Argumentationsparallele zwischen dem pazifistischen Niemöller und dem Ansbacher Ratschlag bei der Funktion des Gesetzes (vgl. 233); interessanter wäre es aber, im Kontext von Barmen eine differenziertere lutherische Sicht – z. B. die Hermann Sasses, der vor der Endabstimmung abreiste, wohl auch um die Einstimmigkeit nicht zu trüben – aufzunehmen und zu diskutieren.
Die prophetische Predigt Niemöllers charakterisiert K. zusam­menfassend als stark dualistisch gefärbte Gerichtsankündigung, durch die Schuld aufgedeckt, benannt und bekannt wird, so dass für Kompromisse kein Platz bleibt: »Dergestaltige Prophetie ist einseitig … Prophetie ist keine Pädagogik: Sie gibt keine Anleitung, duldet keine Umleitung, und ist darin äußerst riskant – für Prediger und Gemeinde« (279; vgl. 340). Inhaltlich ist diese Position durch den starken Christusbezug gefüllt, die K. im Begriff »Soterozentrik« zusammenfasst, weil Niemöller stets die Personalität Christi als Soter stärker betonte als die Soteriologie. Damit ist auch das allseits bekannte Motto »Was würde Jesus dazu sagen?«, das in der biographischen Ursprungssituation (vgl. 28) vorschnell naiv pietistisch deutbar wäre, christo- und soterozentrisch zu verstehen (vgl. 282). Mithilfe der Transaktionsanalyse, deren Grundannahmen und kritische Rezeption in der Theologie aufgezeigt werden (283 ff.), kann K. die Kommunikationsmissverständnisse in einem 1959 verbreiteten pseudonymen Pamphlet gegen Niemöller klarer zeigen und begründen (298 ff.). In 28 Thesen formuliert K. abschließend Kriterien prophetischer Predigt, die den Ertrag der predigtgeschichtlichen Studie für die Gegenwart zusammenfasst (336 ff.).
Insgesamt liegt ein sehr gutes und streckenweise spannend zu lesendes Buch vor, das sowohl historisch wie homiletisch überzeugt und die gegenwärtige Predigt und deren Dominanz weisheitlicher und seelsorglicher Rede infrage stellt. Gleichzeitig verdeutlicht K., dass die prophetische Rede nicht ein zu wählendes Programm darstellt, sondern als »Predigt des Handelns Gottes« (337) christozentrisch und heilsgeschichtlich fundiert ist und gleichzeitig einer Berufung zur Zeugenschaft folgt, die nicht Würde, sondern Bürde (vgl. 339) bedeutet.