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Ausgabe:

Februar/2012

Spalte:

237–239

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Eurich, Johannes, Barth, Florian, Baumann, Klaus, u. Gerhard Wegner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kirchen aktiv gegen Armut und Ausgrenzung. Theologische Grundlagen und praktische Ansätze für Diakonie und Gemeinde.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2011. 742 S. 23,2 x 15,5 cm. Kart. EUR 44,80. ISBN 978-3-17-021237-4.

Rezensent:

Christoph Müller

Es ist ein überaus reichhaltiges, informatives, herausforderndes und anregendes Buch. Gemeinsam ist den 40 Beiträgen, dass »Armut« nicht nur mit materieller Armut gleichgesetzt wird, sondern ebenso körperliche Schwäche, Isolation, Diskriminierung, Erniedrigung und Missachtung, Verletzlichkeit in verschiedenster Hinsicht, Machtlosigkeit und spirituelle Armut umfassen kann – mit individuellen und strukturellen Dimensionen. Es ist im Kontext Deutschlands (als Fokus der meisten Beiträge) immer auch die Frage danach, »wie man innerhalb einer reichen Gesellschaft menschenwürdig leben kann« (10). Mit dem programmatischen Titel soll eine Erblast der Kirchen nicht vergessen werden: dass sie Armut als gottgegeben legitimierten (z. B. als ein von Gott eingesetzter Stand oder als Naturgesetz) oder die Armen als »Objekte der Betreuung« statt als »Subjekte des Glaubens« (309) traktierten und damit ihre Würde missachteten.
Die Fülle der Beiträge (von Autorinnen und Autoren mit verschiedenen beruflichen und konfessionellen Hintergründen und Interessen) ist in acht Kapitel gegliedert:
I. Exegetische und historische Grundlagen: Die Ausführungen zu den alt- und neutestamentlichen Grundlagen zum Umgang mit Armut und Armen zeigen überzeugend, wie perspektivenreich und unverzichtbar die Auseinandersetzung mit diesen Traditionen bleibt. Weitere Beiträge befassen sich mit der Frage, inwiefern die Armensorge als »christentumsgeschichtliches Markenzeichen zwischen frühkirchlicher und spätmittelalterlicher Zeit« (58 ff.) angesehen werden kann, mit der Armut als Herausforderung für das Christentum in der Neuzeit und mit den konfessionellen Wohlfahrtsverbänden im 19. Jh. und ihrer Entwicklung im 20. Jh.
II. Systematisch-theologische Konzeptionen: Was ist mit der in kirchlichen Dokumenten immer wieder zitierten »(vorrangigen) Option für die Armen« gemeint? Ursprung, Bedeutung und Perspektiven der Formel werden unter verschiedenen Aspekten dargestellt: als »zentrale theologische Leitformel für die christliche Sozialethik und daraus gespeistes Handeln, die aber zugleich als Option für Beteiligungsgerechtigkeit übersetzt und kommuniziert werden kann in den allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs« (157). Weitere Fragestellungen: Inwiefern kann Inklusion als theologisch-ethische Grundnorm auch für die Armutsbekämpfung gelten? Was könnte »evangelische Armut« für unsere Kirchen bedeuten? Was zeigt sich in christologischen und kreuzestheologischen Begründungen einer Kirche der Armen?
III. Praktisch-theologische Ansätze: Die Stichworte: »Enabling Churches«; Ko-Initiieren, Ko-Wahrnehmen und strukturell »da­-zwischen« sein; Gemeindeaufbau im Kontext von Ausgrenzung; gemeinwesenorientierte Arbeit von Kirchengemeinden und Diakonie im aktivierenden Sozialstaat; Engagement für Betroffene im Spannungsfeld von professioneller Hilfeleistung und Kirchenentwicklung.
IV. Kirche der Armen – Arme in der Kirche: Der Themenbereich wird aus der Perspektive der Kirchenleitung und am Projekt einer Kirchengemeinde (»Gemeinsam gewinnen«) erörtert. Was bedeutet »Theologie der Gemeinde« in Zeiten von Hartz IV? und: Wie kann eine Kirche für die Armen zu einer Kirche mit den Armen werden und zum Handeln der Armen selbst führen?
V. Sozialwissenschaftliche Zugänge: An Tagesabläufen werden »Miniaturen der Armut im Alltag« gezeichnet (370 ff.). Kirchen können, so zeigt eine religionssoziologische Analyse, dann als »Akteure der Zivilgesellschaft« überzeugen, wenn sie sich »von ihrer Tradition als Zwangsinstitutionen verabschieden und den Weg in Richtung intermediärer Organisationen« einschlagen, die zwischen der individuellen und der öffentlichen Sphäre vermitteln (390 ff.). Herausforderungen an christliche Kirchen werden aus politik- und diakoniewissenschaftlicher Sicht formuliert. Was wären »tragfähige Visionen« (407)? Wie kann die Diskrepanz zwischen theologischem Anspruch Inklusiver Gottesdienste und der faktischen Exklusion armer Menschen wenigstens punktuell überwunden werden? Wie sähe eine »armutssensible Dogmatik« (424) aus?
VI. Sozialpolitische Perspektiven: Analysiert werden normative Diskurse zur »Teilhabe« in der europäischen Sozialpolitik, sozialpolitische Anwaltschaft gegen Armut und soziale Ausgrenzung als Grundfunktion verbandlicher Caritas, die Lobbyarbeit der Caritas (am Beispiel der Bekämpfung der Kinderarmut) und die Spannung zwischen Armutslinderung und Armutsüberwindung.
VII. Armut und Bildung: Das deutsche Schulsystem selegiert nicht primär nach Leistung, sondern vor allem nach sozialer Herkunft; armutsbetroffene Kinder werden so sehr früh in eine gesellschaftliche Sackgasse befördert. Wie lässt sich dieser Teufelskreis durchbrechen?
VIII: Praxisfelder der Armut: Eine große Bandbreite von Praxisfeldern wird beschrieben: Wie könnte kirchliches »Quartiersmanagement« aussehen? Was bedeutet »sozialräumliche Arbeit«? Die Armut in kirchlichen Kindertageseinrichtungen kommt als alltägliches Problem in Sicht. Eindrückliche Beispiele zeigen, was Kirchen schon unternehmen, damit Armenbestattungen nicht mehr so häufig nach dem Motto »verarmt, verscharrt, vergessen« behördlich durchgeführt werden. Dass die Frage nach Gerechtigkeit im­mer mit der Frage nach Macht und Ohnmacht zu tun hat, wird in Überlegungen zur Selbstvertretung der Armen zwischen Sozialen Bewegungen und kirchlichen Wohlfahrtsverbänden deutlich. »Die besten ethischen Argumente, Erklärungen, Pressemitteilungen oder Erklärungen (bleiben) folgenlos, wenn sie sich nicht mit Macht verbinden.« (622) Die Möglichkeiten und Aufgaben der Kirche angesichts von Altersarmut und gegenüber Menschen »ohne Papiere« oder ohne festen Wohnsitz werden differenziert, kenntnisreich und an überzeugenden Beispielen dargestellt. Die Problembereiche hängen oft miteinander zusammen; so zieht Kinderarmut mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Erwachsenen- und Altersarmut nach sich.
In manchen Beiträgen wird die irritierende und provokative Einsicht unabweisbar, dass sich viele Kirchengemeinden »in den mittleren und oberen Milieus der Gesellschaft angesiedelt haben und allein schon deswegen … deutliche Grenzen gegen die Milieus der Armen aufrichten« (17). Anderseits zeigt sich auch eine eindrückliche Vielfalt glaubwürdiger und basisnaher kirchlicher Engagements gegen Armut und Ausgrenzung.
Spannende Auseinandersetzungen finden sich zu zahlreichen Fragestellungen, von denen hier nur wenige genannt werden können: zu »Inklusion« (vs. »Exklusion«) und »Integration«, zu »Teilhabe« und (bzw. vs.) »Beteiligung«, zur »aufgeklärten Ehrenamtlichkeit« (kritisch gegenüber der naheliegenden Instrumentalisierung eines christlichen Engagements), zum notwendigen Bündnis zwischen Professionellen und Ehrenamtlichen, zur »Entwicklungshilfe Nord« usw.
Es ist unvermeidlich, dass Fragestellungen und Begriffe wiederholt zur Sprache kommen. Es zeigen sich Übereinstimmungen, spannende Differenzierungen und Divergenzen. Wenn das Werk eine 2. Auflage erfahren sollte, wäre es wünschenswert, ein Stichwort- (und vielleicht auch ein Bibelstellen- und Projekt-)verzeichnis zu erstellen, um solche Querverbindungen, Ergänzungen und Problematisierungen auch denjenigen Lesenden zu ermöglichen, denen die Zeit fehlt, alle 742 Seiten durchzuackern.