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Ausgabe:

Februar/2012

Spalte:

235–237

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Taschner, Rudolf

Titel/Untertitel:

Gerechtigkeit siegt – aber nur im Film.

Verlag:

Salzburg: Ecowin 2011. 226 S. m. Abb. 21,5 x 15,0 cm. Geb. EUR 21,90. ISBN 978-3-7110-0004-0.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Ein Buch mit diesem Titel scheint alle ernsthaften philosophischen und theologischen Bemühungen um den komplexen und für das gesellschaftliche Zusammenleben wichtigen Sachverhalt der Gerechtigkeit mit leichter Hand wegzuschieben. Der Satz: »Es gibt keine Gerechtigkeit, zumindest nicht auf Erden« (10) wirkt so, als solle sie einfach nur als Illusion abgetan werden.
Aber das ist nicht die Intention Rudolf Taschners, der an der Technischen Universität Wien eine Professur für Mathematik innehat. Er reflektiert die Gerechtigkeit in ihrem Verhältnis zu den acht Gegenstandsbereichen von Gleichheit – Generationen – Ge­setz– Geschichte – Geschäft – Gestaltung – Gewissen – Gnade. So bezieht T. die Gerechtigkeit auf viele wissenschaftliche Disziplinen wie Biologie, Physik, Philosophie, Wirtschafts-, wie Rechtswissenschaften und Theologie. Mittels – zweifellos vereinfachten – ma­thematischen Modellen analysiert T. das Umlageverfahren der Rentenversicherung. Die Antworten auf die brisante Frage nach dem gerechten Verhältnis von Rentnern und Erwerbstätigen zeigen, dass der Begriffsinhalt von Gerechtigkeit alles andere als eindeutig ist (48–59). Damit ist argumentationsstrategisch ein wichtiger Punkt erreicht. Folglich weist die Argumentation von T. jede naturrechtlich begründete Vorstellung der Gerechtigkeit zurück: »Nicht von Natur aus stehen allen Menschen unantastbare Rechte zu, sondern weil wir dies wollen« (38). So ist es eine Kulturleistung gegen die Natur, die Unterschiede der Menschen – Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, Geburt, Stand – als unerheblich zu begründen. Diese Auffassung sichert T. durch seinen zustimmenden Bezug auf den Rechtspositivismus von Hans Kelsen ab, der deutlich zwischen Recht und Gerechtigkeit trennt. Dagegen entscheidet Gustav Radbruch (1946) aufgrund seines Rückbezuges auf das Naturgesetz den hier deutlichen Konflikt zwischen Recht und Gerechtigkeit zugunsten letzterer. Diese Lösung bezweifelt T., weil der Nationalsozialismus seine antijüdische Gesetzgebung ebenfalls naturgesetzlich begründet hat (77 f.). Deshalb ist es im Sinn des Rechtspositivismus, »ein widerspruchsfreies und vollständiges Gesetzeswerk zu schaffen, das dem Funktionieren des Staates dient; der seinerseits dafür Sorge zu tragen hat, dass seine Bürgerinnen und Bürger möglichst ohne Ungemach und Angst leben können« (78).
Diese nüchterne Sicht auf die nicht erreichbare Gerechtigkeit via Naturrecht wird an der Darstellung der Wirtschaft (111–138) deutlich: »Der Markt ist nicht gerecht. Er ist auch nicht ungerecht. Das wäre er nur, wenn er ungerechte Unterschiede schaffen wollte. Aber der Markt besitzt keinen zielgerichteten Willen. Das Marktgeschehen scheint regellos, chaotisch zu sein (117 f.). Dafür führt T. als Beispiel die Aktienkurse als wirr auf- und abstrebende Kurven in einem Koordinatensystem an. Da das Spiel des Marktes nicht gerecht sein kann, muss – in Anlehnung an Walter Eucken – der Staat »einen entsprechenden Rechtsrahmen … vorgeben« (122).
Mit dieser ernüchternden Analyse naturgesetzlich fundierter Gerechtigkeitsvorstellungen endet T. jedoch nicht. In seiner Reflexion des Verhältnisses von Gerechtigkeit und Gewissen (165–190) bezeichnet er das Gewissen als »die einzige Instanz wahrer Gerechtigkeit« (188). »Es sind nicht abstrakte Leitsätze, die das Gewissen formen. Es sind persönliche Erfahrungen, prägende Leitbilder und die Fähigkeit, sich in die Rollen einzufinden, die dem Gewissen als Richtschnur dienen« (188). Damit plädiert T. sehr eindrücklich für die fundamentale Erfahrung der eigenen Autonomie und gegen die Auflösung dieses Ich in einen rein funktionalen Zusammenhang. Im letzten Abschnitt, in dem es um das Verhältnis von Gerechtigkeit und Religion geht (191–212), weist T. die Schrecken der Abrechnung im Jüngsten Gericht bei Augustin zugunsten der Vorstellung der Apokatastasis panton zurück: »Bei der himmlischen Gerechtigkeit ist, so glaubt Origenes, der unverlöschliche Glanz, der vom Ewigen kommend in die Seele des Menschen dringt, die Gnade. … In der Apokatastasis panton vollendet sich das große Glück zur Glückseligkeit.« (212) Das Heil der Religion steht damit außerhalb jeglichen Bemühens um Gerechtigkeit. Für die Debatte um die Gestaltbarkeit gerechter Lebensverhältnisse gibt dieses Buch wich tige Anregungen. T.s, wiederum vereinfachte, mathematische Untersuchung des Vorhabens, Gerechtigkeit durch strikte Umverteilung herzustellen (156–164), stellt die Fragwürdigkeit heraus, Gerechtigkeit einer Gesellschaft allein auf der Basis messbarer materieller Güter erfassen zu können. Daraus folgt: »Nicht der allzu bemutternde Fürsorgestaat erzielt ein Maximum an Gerechtigkeit, sondern ein Staat, der für die wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Eigenverantwortung seiner Bürgerinnen und Bürger sorgt.« (157)