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Ausgabe:

Februar/2012

Spalte:

232–235

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Pfleiderer, Georg, u. Alexander Heit [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Wirtschaft und Wertekultur(en). Zur Aktualität von Max Webers ›Protestantischer Ethik‹.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2008. 295 S. 22,5 x 15,0 cm = Christentum und Kultur, 9. Kart. EUR 32,00. ISBN 978-3-290-17461-3.

Rezensent:

Friedrich Lohmann

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Pfleiderer, Georg, u. Alexander Heit[Hrsg.]: Protestantisches Ethos und moderne Kultur. Zur Aktualität von Ernst Troeltschs Protestantismusschrift. Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2008. 208 S. 22,5 x 15,0 cm = Christentum und Kultur, 10. Kart. EUR 30,00. ISBN 978-3-290-17462-0.


Seit einigen Jahren erscheinen bei TVZ unter dem Gesamttitel »Christentum und Kultur« die »Basler Studien zu Theologie und Kulturwissenschaft des Christentums«. Sie werden von Vertretern der Theologischen Fakultät der Universität Basel herausgegeben, und so zeichnen auch für die beiden hier anzuzeigenden Bände mit Georg Pfleiderer und Alexander Heit zwei Basler Theologen verantwortlich.
Beide Bände gehen auf wissenschaftliche Konferenzen zurück, die jeweils aus Anlass eines Centenar-Jubiläums abgehalten wurden. Entsprechend analog ist auch die grundsätzliche Fragestellung beider Bände: Was kann im Abstand von 100 Jahren zu den beiden epochemachenden Schriften von Max Weber und Ernst Troeltsch gesagt werden? Es geht, so die Herausgeber in ihrem »Einleitenden Vorwort« zu dem der Protestantismusschrift Troeltschs gewidmeten Band, um eine »Selbsthistorisierung« (11) des aktuellen Protestantismus, die im Modus der »Selbstkontextualisierung« (11) geschieht, was den dezidiert gegenwartsbezogenen Ausgangspunkt unterstreicht: Die Beschäftigung mit dem 100 Jahre alten Erbe soll geschehen »zum Zweck ihrer aktualisierenden Deutung« (10 f.) und hat ausdrücklich die Umsetzung »in konstruktive, gegenwarts- und zukunftsbezogene Programme« (Pfleiderer, a. a. O., 23) im Blick. Damit soll zugleich eine Brücke geschlagen werden zwischen zwei gegenwärtig – und nicht nur gegenwärtig! – sich mehr oder weniger in gegenseitigem Unverständnis gegenüberstehenden Modellen protestantischer akademischer Theologie: einem Modell, das im Gefolge eines entsprechend einseitig interpretierten Karl Barth auf die Selbsthistorisierung konsequent zugunsten einer an den heutigen kirchlichen Bedürfnissen orientierten »›Pastoral‹-Theologie« (Pfleiderer, a. a. O., 23) verzichten zu können glaubt, und einem Modell, das sich den (neupro­-tes­tantischen) Klassikern so stark verpflichtet fühlt, dass es sich unkritisch ihnen gegenüber mit der bloßen Selbsthistorisierung begnügt (vgl. insgesamt den nicht ohne Bitterkeit geschriebenen Beitrag Pfleiderers, a. a. O., 19–35). Hier auf die wechselseitigen Verkürzungen hinzuweisen und beiden Modellen gegenüber die Notwendigkeit einer historisch gebildeten und zugleich – ja gerade s o– kirchlich orientierten Theologie einzuschärfen, darf als Programm der gesamten »inzwischen schon ganz stattlich angewachsene[n] kulturtheologische[n] Basler Buchserie« (18) angesehen werden, der durch die beiden Bände zu Webers Kapitalismus- und Troeltschs Protestantismusschrift weiteres Gewicht auf dem theologischen Buchmarkt gegeben wird, wobei die beiden Bände durchaus unterschiedliche Akzente setzen.
Im chronologisch vorausgehenden Band zu Weber überwiegt eindeutig das aktualisierende Interesse, das so weit geht, dass in einzelnen Beiträgen über das Generalthema Wirtschaftsethik hinaus gar kein Bezug zu Weber erkennbar ist. Dabei schwingt der »rezeptionstheoretische Vorschlag« einer »pragmatischen Konzentration der … Weberforschung« (Einleitendes Vorwort, 11) mit, hinter dem sich unschwer die Handschrift des Herausgebers Pfleiderer entdecken lässt, der bereits in seiner Habilitationsschrift zu Karl Barth dessen Theologie als »pragmatisch« motivierte zu entschlüs seln versucht hat – mit der ausdrücklichen Intention, Barths »pragmatische Theologie« ihrerseits pragmatisch-produktiv in die aktuellen Debatten um die Zukunft der Kirche und eine gute Theologie einzubringen.
Jenseits dieses Interesses, in »aktualisierende[m] Gebrauch« (ebd.) wirtschaftsethisch »mit Weber über Weber hinaus« (Pfleiderer, 33) zu denken, sind die Beiträge des Bandes höchst disparat, und ich beschränke mich im Folgenden darauf, die Beiträge namentlich vorzustellen und dabei dem Gruppierungsversuch der Herausgeber zu folgen.
Die erste Gruppe – »Das kapitalistische ›Menschentum‹ und seine Freiheitsspielräume – Spurensuchen« – ist die quantitativ gewichtigste; sie wird dem thematischen Anschluss an Webers Buch am ehesten gerecht. Die Beiträge (Georg Pfleiderer: Max Webers These und ihre Aktualität. Bemerkungen und Beobachtungen nach einhundert Jahren »Protestantische Ethik«, 21–33; Alexander Heit: Kapitalismus und Kirche. Überlegungen zum Bildungsauftrag der Kirche im Anschluss an Max Webers Theorie der Moderne, 35–74; Ulrich Thielemann: Der unbemerkte Sachzwang zum Unternehmertum. Zur Aktualität Max Webers im Zeitalter globalen Wettbewerbs, 75–103; Andreas Brenner: Grundeinkommen: Lebenskunst in den Zeiten des Kapitalismus. Betrachtung zweier Triptycha, 105–123; Sabine Maasen: Webers Protestantische Ethik und die Ökonomisierung der Lebensführung, 125–139) lassen sich versuchsweise dahingehend zusammenfassen, dass sie alle – mit Weber – die Notwendigkeit der Gewinnung von individuellen Freiheitsspielräumen in einer rational ökonomisierten Lebenswelt hervorheben und solche Freiheitsgewinne – gegen Weber – auch für möglich halten.
In Umkehrung der Fragestellung Webers – Auswirkung der Religion auf die Ökonomisierung – beschäftigen sich Jörg Stolz (»Rational Choice« in der Religionssoziologie. Vorschläge für einen Neuanfang, 143–157) und Friedrich Wilhelm Graf (Der Markt des »pluralen Monotheismus«, 159–168) mit der gegenwärtig unter dem Stichwort »Religionsökonomie« verhandelten ökonomischen Betrachtung der Religion(en), wobei Stolz bei der Anwendung der Markt-Kategorie auf religiöse Phänomene deutlich zurückhaltender argumentiert als Graf.
Drei Beiträge stehen unter der Überschrift »Welche Werte braucht die Wirtschaft?« – Peter Koslowski: Max Webers Deutung wirtschaftlichen Erfolgs und die Wertekultur der Globalisierung, 171–186; Ewald Stübinger: Von der Profitmaximierung zur ethischen Unternehmensführung? Neuere Entwick­lungen in der Unternehmenskultur, 187–220; Daniel Dietzfelbinger: Die Moral der Unternehmer: Zur Bedeutung von Wertprägungen und Werthaltungen bei Unternehmerpersönlichkeiten, 221–237). Dass alle drei den wirtschaftsethischen Teilaspekt der Unternehmensethik in den Vordergrund rücken, ist eine interessante und im Blick auf die Überschrift des Abschnitts diskussionswürdige Zuspitzung.
Abschließend rückt wieder die Religion in den Fokus (»Weltwirtschaft, Wirtschaftsethik, Weltreligionen – und ihre Wechselwirkungen«), wobei sich globale (Christoph Stückelberger: John Calvin und Calvin Klein. Reformierte Wirtschaftsethik im globalen Kapitalismus, 241–258), lokale (Lukas Kundert: Propheten, Problemträger oder Profiteure? Sind die Volkskirchen wirtschaftsethisch noch handlungsfähig?, 259–270) und regionale (Gritt Klinkhammer: Wirtschaftsethik und der Islam am Beispiel der Muslime in Europa, 271–281) Perspektiven verbinden.
Die Konzession Stückelbergers, nicht mehr als »Blitzlichter« (241) liefern zu können, ist zutreffend, und zwar nicht nur hinsichtlich des eigenen Beitrags, sondern auch im Blick auf den gesamten Band, in dem 100 Jahre nach Webers bahnbrechender Studie weiterführende Überlegungen zur Wirtschaftsethik aus heutiger Sicht gesammelt sind – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Der Band zu Troeltschs Protestantismusschrift ist homogener als der Weber-Band, weil hier der – zustimmende, kritische oder auch fortschreibende – Anschluss an die Originalschrift in den einzelnen Beiträgen stärker gewahrt ist.
Der Band enthält im Einzelnen Beiträge folgender Autorinnen und Autoren: Georg Pfleiderer (Die Bedeutung der modernen Welt für die Gestaltung des Protestantismus. Zur Aktualität von Ernst Troeltschs Protestantismusschrift, 19–35), Friedemann Voigt (Protestantismus und moderne Welt. Die Program­ma­tik von Troeltschs Protestantismusschrift im werkgeschichtlichen Kontext, 37–54), Alexander Heit (Alt- und Neuprotestantismus bei Ernst Troeltsch, 55–78), Ina Praetorius (Das vernachlässigte »Grundelement aller Gesittung«: Überlegungen zur Familie in Ernst Troeltschs Schrift »Die Bedeutung des Protes­tantismus für die Entstehung der modernen Welt« [1906/11], 79–91), Reiner Anselm (»Den modernen Staat … hat der Protestantismus nicht geschaffen«, 93–106), Volkhard Krech (Moderner Kapitalismus und Protestantismus: Wahlverwandtschaft oder Heterogenese? Die »Weber-Troeltsch-These« und ihre Aktualität, 107–117), Matthias Neugebauer (Wie intelligent ist der Protestantismus? Hintergrundsystematisierungen und Ausblicke zur Troeltsch-These »Der Protestantismus hat die Religion zweifellos intellektualisiert«, 119–140), Thomas Schlag (Der Protestantismus hat »die Religion zweifellos intellektualisiert« – Die Bedeutung des Protestantismus für eine moderne evangelische Bildungstheorie, 141–153), Regine Munz (Die gnadentheologische Grundierung von Ernst Troeltschs Kultur- und Kunsttheorie. Die Kunst der Moderne als das »Ende der protestantischen Askese«, 155–172), David Plüss (»Die Religion wird zu einer Lebensmacht nur, wenn sie das Kulturleben in sich hineinzieht« – Aspekte modern-postmoderner Subjektivität christlicher Religion, 173–188), Niklaus Peter (»Eine dogmatisch nicht verhärtende Überzeugungs- und Gewissensreligion«. Ernst Troeltschs Neuzeitdeutung und ihre Perspektiven für protestantische Kirchen- und Kulturarbeit, 189–199).
Nach dem Beitrag Pfleiderers, der die oben schon resümierte Einordnung des Bandes in die Programmatik der Basler Reihe vornimmt, erfolgt bei Voigt und Heit ein Blick auf die Protestantismusschrift vom Gesamtwerk Troeltschs her. Voigt zeigt dabei, dass es schon Troeltsch bei seinen historischen Analysen um die Gegenwart zu tun war (»›So ist das Verständnis der Gegenwart das letzte Ziel aller Historie‹ … Dieser Satz ist die Zusammenfassung des grundsätzlichen und programmatischen Zuschnitts von Troeltschs Denken …«, 39), während Heit auf die bestimmende Bedeutung der Individualitätskategorie für Troeltschs Geschichtsrekonstruktion hinweist (»Der Individualitätsbegriff ist der Schlüssel zu Troeltschs Rekonstruktion der Protestantismusgeschichte«, 77). Auch die beiden am Ende stehenden Beiträge nehmen Troeltschs Theologie in ihrer Gänze in den Blick, diesmal allerdings mit deutlich kritischer Zuspitzung. Plüss attestiert der Protestantismusschrift, es werde »eine Normativität in die vermeintlich rein deskriptiven Analysen eingetragen« (178); »der normative Eintrag eines Bildungskonzepts« (182) verkürze das Wesen protestantischer Subjektivität, in der – mit den von Troeltsch so geschätzten Täufern und Spiritua­listen, aber auch im Anschluss an seinen Zeitgenossen William James – auch »charismatische Irrationalität« (ebd.) im Sinne der »Subjektbildung« (188) zur Geltung komme. Noch kritischer geht Peter mit Troeltsch um, indem er aus der ausdrücklichen Perspektive des »Praktiker[s]« (195) die bloße Formalität von Troeltschs Protestantismusdeutung moniert: »Mit seiner grossräumigen Legitimationserzählung, die dem Christentum ein paar Anteilscheine an der Neuzeit sichern will, indem sie auf einige nicht intendierte Beiträge zu deren Entstehung und auf eine für deren Freiheitssicherung unverzichtbare Restkomponente eines Gottesglaubens abhebt, mit dieser Legitimationserzählung gibt Troeltsch für das Linsengericht eines Neuzeit-Eintrittstickets sehr viel weg: Nämlich fast das gesamte Material einer materialen Theologie.« (197) Schon wenn man diese Gesamtdeutungen von einerseits Voigt und Heit, andererseits Plüss und Peter vergleicht, zeigt sich, wie weit man in der gegenwärtigen Theologie noch von dem einleitend apostrophierten Brückenschlag entfernt ist.
Von diesen vier Beiträgen gerahmt werden sechs weitere Aufsätze zur Protestantismusschrift, die sich mit Einzelaspekten befassen. Auch hier fällt die extreme Differenz in der Bewertung ins Auge. Während Schlag im – unausgesprochenen – Gegensatz zu Plüss und Peter ein vorbehaltloses Plädoyer für Troeltsch ablegt (»Die Aussagen Troeltschs im Blick auf die Gestalt und Zukunft religiöser Bildung sind von unerhörter und noch weitgehend un­beachteter Aktualität«, 149), und zwar gerade in puncto einer »Intellektualisierung religionspädagogischer Praxis« (152), weist Praetorius hinsichtlich des Abschnitts zur Familie in der Protes­tantismusschrift kritisch auf den Widerspruch zwischen dessen Kürze und der von Troeltsch »behaupteten Erstrangigkeit des Themas« (79) hin. Allerdings konzediert sie Troeltsch hierin seine Zeitgebundenheit (vgl. 84), ein Argument, das auch von Anselm geltend gemacht wird, wenn er in einer Meta-Kritik an Troeltschs kritisch gegen die Kirche seiner Zeit gerichtete Staatstheorie auf die »zweifelsohne gegebene Notwendigkeit zur Neu- und Weiterbildung« (106) hinweist. In anderer, kapitalismustheoretischer Hinsicht hebt Krech hervor: »Auf die Frage aber, wie mit dem Ideal der autonomen Persönlichkeit eine Gemeinwohlorientierung möglich ist, bleibt Troeltsch eine Antwort schuldig.« (117) Deutlich positiver gestimmt sind wiederum die Beiträge von Neugebauer (»Troeltsch hat mit seiner These von der Intellektualisierung der Religion einen entscheidenden Punkt präzise fixiert«, 137) und Munz, die »Troeltschs gnadentheologischen Subtext« (168) eruiert, der ein Kunstverständnis impliziere, das »über eine asketische sinnlichkeitsfeindliche Haltung« (172) hinausweist. Beide Beiträge führen auf die Frage zurück, die man als »Subtext« nicht allein der Protes­tantismusdeutung Troeltschs, sondern des hier vorliegenden Bandes ansehen darf: Wie intellektualistisch ist die christliche Religion bzw. sollte sie sein?
Die disparaten Antworten auf diese Frage, die der Band versammelt, zeigen mehr als deutlich, wie stark die Deutung und Bewertung der Lebensleistung Troeltschs von der Sicht auf den christlichen Glauben abhängig ist, die seine Interpreten und Interpretinnen haben.