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Ausgabe:

Februar/2012

Spalte:

228–230

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Chabot, Boudewijn, u. Christian Walther

Titel/Untertitel:

Ausweg am Lebens­ende. Selbstbestimmtes Sterben durch freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken. M. e. Geleitwort v. D. Birnbacher.

Verlag:

München/ Basel: Reinhardt 2010 (2. Aufl. 2011). 172 S. 21,0 x 13,2 cm. Kart. EUR 16,90. ISBN 978-3-497-02152-9 (2. Aufl.: 978-3-497-02220-5).

Rezensent:

Hartmut Kreß

Das Buch, verfasst von dem niederländischen Gerontopsychiater Boudewijn Chabot und von dem Neurobiologen Christian Wal­-ther, verdient im Rahmen der laufenden ethischen, rechtlichen und medizinischen Debatten über den Umgang mit dem Lebens­ende und die Sterbehilfe besondere Beachtung. Denn es erörtert eine Form von Sterben und Sterbebegleitung, die zumindest in Deutschland in der fachwissenschaftlichen und öffentlichen De­batte kaum wahrgenommen wird: den freiwilligen Verzicht des Patienten auf Essen und Trinken. Im Kern handelt es sich darum, dass ein in der Regel älterer Patient mit schwerer Krankheit den Eintritt des Todes beschleunigt, indem er eigenverantwortlich, auf eigenen Entschluss hin, keine Nahrung und Flüssigkeit mehr zu sich nimmt. Das Buch ist gut nachvollziehbar angelegt, enthält in­struktive Fallbeispiele und trägt differenzierende Ar­gumente vor. Manche ethischen Probleme, die sich in Anbetracht terminaler Sedierung oder des ärztlich assistierten Suizids stellen, lassen sich mithilfe dieser Form der Lebensbeendigung umgehen.
Für jüngere Patienten kommt das Verfahren nicht infrage, weil für sie, anders als für Ältere, das Durstgefühl zu belastend ist (13.87). Für Ältere trifft der verbreitete Einwand, ein solches Sterben sei derart qualvoll, dass er von vornherein außer Betracht bleiben müsse, indessen nicht zu. Hungergefühle klingen ab; das Durstgefühl ist durch Mundpflege und -befeuchtung beherrschbar (77 f.). Schmerzen und Verwirrungszustände lassen sich durch palliativ medizinische Begleitung auffangen. Ethisch und rechtlich ist der Entschluss zu Nahrungs- und Flüssigkeitsverzicht durch die Patientenautonomie bzw. durch das Grundrecht auf Freiheit und Selbstbestimmung gedeckt. Psychologisch und existentiell gesehen ist allerdings zu sagen, dass hierfür erhebliche Willensstärke erforderlich ist. Das Buch beschönigt nicht, dass dieser Weg der Lebensbeendigung bzw. der Beschleunigung des Todeseintritts nicht frei von Leiden ist. Der Sterbeprozess wird sich über mehrere, eventuell sogar über viele Tage erstrecken. Anders als bei der palliativen bzw. der terminalen Sedierung behält der Patient grundsätzlich das Bewusstsein. Anfangs kann er seinen Beschluss noch revidieren, indem er wieder Nahrung und Flüssigkeit zu sich nimmt.
Die Motive, aufgrund derer Patienten einen solchen Entschluss treffen, können unterschiedlich gelagert sein. Oft wird eine Rolle spielen, dass sie das Sterbeschicksal, das ihnen krankheitsbedingt bevorsteht, als zutiefst entwürdigend und als Verletzung ihrer Selbstachtung ansehen. Daher möchten sie den Todeseintritt be­schleunigen und, soweit möglich, unter selbstbestimmten Bedingungen versterben. Das Buch hebt hierzu Punkte hervor, die aus ethischer Sicht ganz entscheidend sind. Falls Menschen eine entsprechende Entscheidung treffen, sollte sie freiverantwortet, im Vorhinein sorgfältig durchdacht, dauerhaft und im Dialog mit anderen – dem Arzt, dem Pflegepersonal, das den Sterbenden be­gleiten wird, und den Angehörigen – getroffen worden sein. Die Angehörigen, die ein solches selbstbestimmtes Sterben miterleben, sind ihrerseits hohen seelischen Belastungen und moralischen Zweifelsfragen ausgesetzt.
Das Buch enthält nicht nur medizinische und pflegerische Hinweise sowie ethische Abwägungen, sondern ebenfalls eine rechtliche Beurteilung. Man kann diese Form des Sterbens als natürlichen Tod bewerten (57 f.). Aber sie lässt sich ebenfalls in die Nähe des Suizids rücken. Das Buch verwendet den paradox wirkenden, aber durchaus angemessenen Terminus des passiven Suizids (129). Eine wichtige Anschlussfrage lautet, wie das Handeln des Arztes zu beurteilen ist, der den Sterbeprozess oder anders gesagt: die über mehrere Tage sich hinziehende freiwillige Selbsttötung des Patienten miterlebt, sie begleitet und neben den rein pflegerischen Maßnahmen auch durch Medikamente (Mittel zur Schmerzlinderung und zur Linderung von Angstzuständen oder Delir; Schlafmittel; Morphine) unterstützt. Je nach Betrachtungsweise könnte dies eventuell als Beihilfe zum Suizid ausgelegt werden (102 ff.). Diese ist in der Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich straffrei. Andererseits weist die Gesetzeslage Randunschärfen auf (Garantenstellung; Hilfeleistungspflicht von Dritten). Für Ärzte können sich überdies aus den Vorgaben der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages Komplikationen ergeben. Das Buch erörtert das herkömmliche Nein der Bundesärztekammer zur ärztlichen Beihilfe zum Suizid (111 ff.). Es konnte freilich noch nicht die widersprüchlichen Äußerungen der Bundesärztekammer aus dem Jahr 2011 kennen und sie kommentieren (zu Beginn des Jahres 2011: Aufhebung der standesrechtlichen Ablehnung einer ärztlichen Suizidbegleitung; danach überraschend eine Verschärfung des Verbots, indem es in die Musterberufsordnung hineingeschrieben wurde). Es spricht für die Solidität des Buches, nicht zu verschweigen, dass bestimmte juristische und ärztlich-standesrechtliche Zweifelsfragen noch nicht abschließend beantwortet sind. Juris­ tisch und ethisch sinnvoll ist jedenfalls die Empfehlung, ein Patient solle daran denken, den Arzt und die ihn begleitenden Menschen vorsorglich schriftlich von jeder Garantenpflicht zur Lebensrettung zu befreien (73.106).
Insgesamt beleuchten die beiden Autoren eine Form von Sterben und Sterbebegleitung, die in Deutschland zu wenig zur Kenntnis genommen wird. Insofern trifft das Buch in der inzwischen sehr breiten Literatur über Sterbehilfe und Sterbebegleitung in eine Lücke hinein. Zu hoffen ist, dass es weitere ethische und theologische Reflexionen, medizinische Abklärungen einschließlich empirischer Forschung sowie rechtswissenschaftliche Klärungsbemühungen anstößt.