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Ausgabe:

Februar/2012

Spalte:

226–228

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Causse, Jean-Daniel, et Denis Müller [Dir.]

Titel/Untertitel:

Introduction à l’éthique. Penser, croire, agir. Avec la collaboration de D. Andronicos.

Verlag:

Genève: Labor et Fides 2009. 673 S. 22,2 x 14,8 cm = Le champ éthique, 51. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-2-8309-1362-0.

Rezensent:

Martin Leiner

Die beiden Organisatoren Jean-Daniel Causse (Montpellier) und Denis Müller (Genf) haben in dieser Einführung Texte von 18 Autoren versammelt, die in der französischsprachigen theologischen Ethik der Gegenwart eine wichtige Rolle spielen. Im Vergleich zu den bisher im Gebrauch befindlichen Einführungen des reformierten Genfer Ethikers Éric Fuchs (L’éthique protestante, Genf 1990) und des Neothomisten Servais Pinckaers O. P. (Les sources de la morale chrétienne, Fribourg/Paris 1985, 4. Aufl. 2007) macht diese Einführung einen bedeutsamen Schritt hin auf konfessionelle Zusammenarbeit und Vielfalt der Argumentationen.
Acht Autoren sind katholische Theologen: Christian Arnsperger (Louvain-la-Neuve), Alberto Bondolfi (Genf), Philippe Bordeyne (Paris), Éric Gazioux (Louvain-la-Neuve), Guy Jobin (Québec), Xavier Lacroix (Lyon), Marie-Jo Thiel (Straßburg) und Alain Thomasset (Paris). Als Philosophen argumentieren Olivier Abel (Paris), Bernhard Baertschi (Genf), Jean-Marc Ferry (Brüssel) und Florence Quinche (Nancy). Lutheraner sind Karsten Lehmkühler und Élisa­beth Parmentier (beide Straßburg) und in ihrer theologischen Orientierung im Grunde auch zumindest Pierre Bühler (Zürich) und Jean-Daniel Causse (Montpellier). Die übrigen Autoren des Bandes sind: François Dermange (Genf), Céline Ehrwein Nihan (Bern) und Denis Müller (Genf). Dass schließlich nur noch eine große Minderheit protestantischer und eine kleine Minderheit explizit reformierter Ethiker an dem Projekt beteiligt sind, zeigt, dass Ethik heute im französischsprachigen Raum in ökumenischer Zusammenarbeit betrieben wird. Die Darstellung Calvins oder des klassisch protestantischen Themas des Schriftgebrauchs in der Ethik, wie sie etwa Alain Thomasset mit präzisen Worten gibt, zeigt, dass diese Themen nicht verkürzt werden, sie rücken nur vom Status des Systems und der verpflichtenden Tradition in den des Arguments unter anderen.
Denis Müller geht in seinem Beitrag über die religiösen Dimensionen der Ethik noch über die ökumenische Öffnung hinaus. Er fordert die Einbeziehung der nichtchristlichen Religionen in jede christliche oder auch philosophische Reflexion über Ethik, die heute des Namens Ethik wert sein soll. Dabei sieht Müller eher Konvergenzen in fundamentalen Fragen der Ethik, während die Divergenzen zwischen den unterschiedlichen religiösen Ethiken vor allem in der Angewandten Ethik virulent werden. In aufschlussreichem Rückgriff auf die Diskussion um eine Minimal Ethic (Sissela Bok, Michael Walzer) kommt Müller zu dem Ergebnis, dass das Projekt Weltethos bei allen Erfolgen, Gemeinsamkeiten in grundlegenden Normen bewusst zu machen, das Problem der Divergenzen in der Angewandten Ethik noch weitgehend ungelöst lässt. Im Gespräch mit Religionstheorien und beeinflusst durch anthropologische Erkenntnisse, soll theologische Ethik nach Müller Themen wie die Konstitution der Transzendentalien des Wahren, Guten und Schönen, die Kritik an Religion und Theologie sowie schließlich die Horizonte von Hoffnung, Widerstand und Selbstüberschreitung in das vielstimmige Gespräch über das gute Handeln mit einbringen.
Ähnlich wie Müller legen auch alle anderen Autoren des Bandes dar, worin sie den spezifischen Beitrag einer theologischen Ethik in der heutigen Gesellschaft sehen. In der Zusammenstellung dieser vielstimmigen Beschreibungen der Relevanz und Aufgabe theologischer Ethik heute, hat der Band zweifellos seine zweite große Stärke. Keiner der Autoren bestimmt theologische Ethik als exklusiv kirchliche Binnenethik. Der kirchliche Kommunitarismus von Hauerwas wird in einigen Beiträgen sogar schroff abgelehnt (z. B. 143). Ob sie letztlich doch die Kirche voraussetzen oder aber weitgehend ohne Kirchenbezug auskommen, die Bedeutung der theologischen Ethik ist für die Autoren höchst unterschiedlich. Jean-Marc Ferry sieht die besondere Bedeutung des Christentums für die Ethik im Anschluss an Hegel darin, dass der Tod des Individuums in einer ganz anderen Weise ernst genommen werde als in der schönen moralischen Ganzheit der griechischen Polis (22 ff.). Éric Gaziaux, Spezialist für die Fragen der autonomen Ethik, hat zur Stellung der Vernunft in der Ethik die sehr bedenkenswerten Sätze geschrieben, dass jedes vernünftige Handeln von der Hoffnung auf Sinn getragen ist und somit über sich hinaus verweist (89–91). In einem zweiten Text sieht Denis Müller den Beitrag der theologischen Ethik in einer möglichen »theonomen Subversion« der Moderne (119). Alain Thomasset beschreibt den Beitrag der Bibel mit ihren Symbolen und Beispielen zur Bildung des ethischen Bewusstseins und zum Fällen von Entscheidungen. Ihre Mitte und ihren Sinn hat die biblische Bildung in der christusförmigen Verwandlung des Menschen (152). Karsten Lehmkühler, um nur noch einen weiteren Autoren zu nennen, verortet die Ethik in der Pneumatologie. In der Welt, aber nicht von der Welt zu sein, ist das in der Ethik sich äußernde Merkmal christlicher Existenz.
Eine dritte große Stärke hat das Buch schließlich auch in einigen Wahrnehmungen zur Geschichte der Ethik. So zeigt François Dermange in seinem Beitrag auf, wie Karl Barth in KD III/2 zu einer positiven Sicht des Menschen als Subjekt seiner Geschichte gelangt ist (299 f.). Die menschliche Fähigkeit zur Ethik, sein Idealismus und seine freie Verantwortung werden von Barth bejaht. Dermange kommt von dieser und parallelen Beobachtung aus zu dem bedeutsamen Schluss, dass der Gegensatz zwischen einer theologischen und einer nichttheologischen Verantwortungsethik zentral nicht darin liegt, dass der Mensch in der Theologie primär vor Gott verantwortlich sei.
Seinem Titel entsprechend enthält das Buch zahlreiche Darstellungen zur Geschichte und zu aktuellen Fragen der Ethik. Sehr übersichtlich informieren die Texte von Alberto Bondolfi und Ehrwein Nihan. Eine tiefschürfende Kapitalismuskritik präsentiert Christian Arnsperger. Die Beiträge aus der Angewandten Ethik sind als Beispiele zu verstehen, wobei ein gewisser Schwerpunkt auf konservativen Stellungnahmen zur Sexual- und Bioethik liegt; ein Preis, der vielleicht für die ökumenische Zusammenarbeit zu zahlen war. Von Menschenrechten ist erstaunlich selten die Rede, ebenso von den Medien; von der Dritten Welt, Weltarmut und globaler Gerechtigkeit überhaupt nicht. Insgesamt ist das Buch eine sehr lesenswerte Darstellung dessen, wie sich theologische Ethik im frankophonen Bereich heute vermittelt.