Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/2012

Spalte:

221–223

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hörmann, Christian

Titel/Untertitel:

Begegnung mit dem Unaussprechlichen. Musik-Erfahrung und kairologische Rationalität.

Verlag:

Ostfildern: Matthias-Grünewald-Verlag 2010. 448 S. 22,0 x 14,0 cm. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-7867-2842-9.

Rezensent:

Stefan Berg

Wer sich mit dem Verhältnis von Musik und Religion befasst, der muss unweigerlich an grundsätzliche Fragen geraten, denn wer sich dazu äußert, in welcher Beziehung ein musikalisches Ereignis in der Welt mit Gott steht, der hat basalste systematisch-theologische Weichenstellungen vorgenommen. Doch nur wenige gehen das Thema in der damit gebotenen Konsequenz an, und so verdient die in dieser Hinsicht vorbildliche Untersuchung von Christian Hörmann – eine an der Universität Regensburg unter Betreuung des katholischen Dogmatikers Erwin Dirscherl verfasste Dissertation – besondere Aufmerksamkeit.
Der ›Anweg‹ (9–47) skizziert den konzeptionellen Zugriff, den ich in vier Punkten charakterisieren möchte:
a) Musikästhetisch ist H. ganz von Adorno geprägt. Musik besitze »eine eigentümliche Sprachähnlichkeit, die sich einer Versprachlichung in einem begrifflichen System zu widersetzen droht« (9).
b) Um einer Vereinnahmung der Musik zu entgehen, setzt H. nun bei der Erfahrung an: »Nicht die Musik soll theologisch be­stimmt, sondern die Musik-Erfahrung nach ihren theologischen Implikationen befragt werden« (10), womit die Frage nach der Beziehung von Musik- und Gotteserfahrung ins Zentrum rückt.
c) Es ist eine bestimmte Erfahrungsqualität, an der H. den Konnex beider Erfahrungen sucht: das »existentiell[e] Berührtwerden durch Musik«, das »ekstatisch-emotional[e]« oder »intellektuell[e] Fasziniertsein« (31). Angesichts solcher »Momente des Gebannt-, Erschüttert- oder Betroffenseins« (42) zieht H. in Betracht, dass »Gott … sich in der Musik-Erfahrung als der Abwesende hörbar [macht]« (40 f.) bzw. dass Musik gelten kann als »menschliche Artikulation seiner Abwesenheit; Antwort auf ein nicht hörbares Angesprochensein und darin ein Nahekommen des sich entziehenden Gottes.« (41) Solches konstituiere Augenblicke einer »Gnadenerfahrung« (39) in der Zeit, für deren theologische Bestimmung H. auf den Kairos-Begriff zurückgreift.
d) Schließlich ist H. darauf bedacht, die konzeptionelle Prominenz des Erfahrungsbegriffs nicht mit subjektivistischen Tendenzen zu erkaufen, und so hebt er hervor, dass Erfahrung stets »in einem bestimmten sozialen Kontext gemacht [wird], der Deutungsschemata vorgibt« (24 f.). Diese Einsicht führt ihn dazu, auch den Rationalitätsbegriff als Zentralelement in seinen Ansatz aufzunehmen. Diese vier Fäden sollen in der ›kairologischen Rationalität‹ zusammenlaufen: ein Konzept, das über die Arbeit hinweg zu entwickeln sei und in das tatsächlich – in systematisch bisweilen etwas unkontrollierter Weise – diverse der im Folgenden behandelten Aspekte eingehen.
In Kapitel 2 (48–204) tritt das Thema Musik zurück, und es er­folgt eine Auseinandersetzung mit Hans Urs von Balthasar. Vereinfacht gesagt lässt sich H. ein Modell zuspielen, das die Struktur der ›Welterfahrung‹ (2.2) und ›Gottesbegegnung‹ (2.3) erhellen soll, wobei Balthasars Ontologie dynamisiert und dessen Herrlichkeitstheologie kritisiert wird, um auch Erfahrungen von »Brüchigkeit« (90), »Sperrigkeit und Unauslotbarkeit« (156) in den Blick bekommen zu können. Kapitel 3 (205–406) entfaltet »Musik-Erfahrung … als Begegnungsgeschehen« (205), das sich »auf die Rätselhaftigkeit des eigenen Daseins und darin auf Gott selbst bezieht« (207). Um dies auszuarbeiten, werden zunächst (3.2) verschiedene (musik)-ästhetische Aspekte entfaltet. Dies bildet die Grundlage für eine ›phänomenologische‹ Erkundung der Strukturen von Musikerfahrung (3.3), wobei die Haltung des Erfahrenden als »kontemplativ und asketisch« (259) bestimmt und der Leiblichkeits- und Alteritätsaspekt hervorgehoben wird. Größten Raum nimmt der folgende Abschnitt 3.4 (›Begegnungen‹) ein. Es überrascht, dass H., der in 2.1.2 den ›Vorrang des Visuellen bei Hans Urs von Balthasar‹ problematisierte, nun auf die »Bilderlosigkeit« der musikalischen »Begegnungserfahrung« (295) abhebt. Neben Musik und Wortsprache kommt damit ein drittes Medium ins Spiel, und die sich daraus ergebende Komplexität hätte zeichen- oder medientheoretisch stärker reflektiert werden können. H., der Musikerfahrung als »Begegnung mit dem Unaussprechlichen« (295) begreift, nutzt das Bilderverbot, um den negativ-theologischen Zug seines Denkens auf künstlerische Phänomene hin zu profilieren, wobei die ›Leerstellen‹ (3.4.1.2) im Nicht-Darstellen auf klangliche Phänomene der Stille – ›Unterbrechen‹, ›Verklingen‹ und ›Schweigen‹ (3.4.2.2 bis 3.4.2.4) – bezogen werden. Nicht zuletzt über die für Adorno zentrale Frage nach der Kunst ›nach Auschwitz‹ gelangt H. zur Theodizeeproblematik (3.4.3). Ein Satz wie der folgende deutet an, in welcher Richtung hier gedacht wird: »Der Gott, der sich entzieht und schweigt, ist der Gott, der der Klage und der Verzweiflung ih­ren Raum schenkt. Er wendet sich nicht ab. Die Begegnung bleibt auch in der tiefsten, lautlosen Dunkelheit spürbar.« (358) Die über die Musik vermittelte Gotteserfahrung entwirft H. daher nun als eine »Erfahrung von Leerstellen und Dunkelheiten« (363). Zur Be­gründung heißt es, christliche Theologie habe sich »als Theologie ›nach Auschwitz‹ grundsätzlich von einer Gottrede zu verabschieden, die sich als Ausfaltung eindeutiger, weil wahrnehmbar offenbarter Gewissheiten versteht« (385). Hoffnung kann unter diesen Umständen nur mehr als ›pathische Hoffnung‹ (3.4.3.4), Wahrheit allein als ›gebrochene Wahrheit‹ (3.4.3.5) gedacht werden.
Wie auch die Zusammenfassung der ›Ergebnisse‹ in Kapitel 4 (407–423) zeigt, ist es H. in bemerkenswerter Weise gelungen, ein breites Spektrum von Aspekten produktiv in seine Überlegungen einzubeziehen. Damit liegt ein lesenswerter, über weite Strecken stringent entfalteter und in sich schlüssiger Beitrag zum Thema Mu­sik und Religion in katholischer Perspektive vor. Zumindest drei kritische Punkte müssen aber dennoch benannt werden:
1. Der konzeptionell neuralgische Punkt ist sicher das gesuchte Ineinander von Musik-, Selbst- und Gotteserfahrung. Hier wäre eine kritische Reflexion zur Tragfähigkeit des Erfahrungsbegriffs sowie zur Frage, ob die vorgestellte Erfahrungsqualität eigentlich notwendig eine religiöse Konnotation bedingt, willkommen gewesen. Macht ein atheistischer Hörer, der mit der Rätselhaftigkeit seines eigenen Daseins konfrontiert wird, notwendig eine Gotteserfahrung?
2. Musikästhetisch ist die Untersuchung vollständig von Adorno abhängig, womit einem Modell der Vorzug gegeben wird, das die Musik ganz von der Wortsprache her denkt. So ist es zwar naheliegend, die Figur des Unaussprechlichen ins Spiel zu bringen, doch hätte man etwas genauer mögliche Alternativen und Gefahren bedenken können. Gerät man auf diese Weise nicht allzu leicht in kunstreligiöse Denkfiguren des 19. Jh.s?
3. H.s Ansatz ist überaus stark von der negativen Theologie geprägt, und es hätte auch dem Nachdenken über Musik gut getan, wenn die Probleme, die eine solche Position mit sich bringen kann, bedacht worden wären. In der Absetzung von Balthasars Herrlichkeitstheologie und in der Hinwendung zu Adornos Negativitätsdenken wird die Perspektive auf die Musikerfahrung nämlich überaus stark auf Erfahrungen der Leere und Dunkelheit verengt. Muss tatsächlich so exklusiv definiert werden, wodurch sich eine theologisch interessante Musikerfahrung qualitativ auszeichnet? Liegt das Faszinierende und Überraschende nicht gerade auch darin, dass die Qualität dessen, was da erfahren wird, konzeptionell nie ganz zu bändigen ist?