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Ausgabe:

Februar/2012

Spalte:

217–221

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Fischer, Joachim

Titel/Untertitel:

Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts. Studienausgabe.

Verlag:

Freiburg/München: Alber 2009 (Nachdruck d. Erstausgabe v. 2008). 684 S. 21,4 x 13,9 cm. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-495-48369-5.

Rezensent:

Michael Großheim

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Ley, Friedrich: Arnold Gehlens Begriff der Religion. Ritual – Institution – Subjektivität. Tübingen: Mohr Siebeck 2009. XIII, 484 S. 23,2 x 15,5 cm = Religion in Philosophy and Theology, 43. Kart. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-150169-2.


Philosophische Anthropologie ist schon seit Längerem zum Stiefkind der Philosophie geworden. Unter dem dreifachen Druck von Geschichtsphilosophie, Existenzphilosophie und Kulturwissenschaft hat sie sich in den letzten Jahrzehnten in ein unattraktives, wissenschaftlich verwaistes, in den Augen vieler nur noch historisches Projekt verwandelt. Die dreifache Kritik wirkt nach: Nicht die Verklärung von Invarianten, nicht die vermeintliche Wirklichkeit, sondern die Möglichkeit des Menschen, seine Selbstverwirklichung unter den angemessenen gesellschaftlichen Umständen forderten Horkheimer, Adorno und Lukács. Nicht die objektivierende Thematisierung in der dritten Person (»der Mensch«), nicht das Subsumieren als Fall einer Gattung, sondern den Ausgang von der »Jemeinigkeit«, die die Resultate jeder bloßen »Sachkunde« überschreitet, postulierten Heidegger, Bultmann und Jaspers. Nicht eine unveränderliche und universale »Natur« des Menschen, sondern einen historisch veränderlichen, geographisch vielfach variierenden und nur durch kulturelle Konstruktionen zugänglichen Gegenstand nimmt die moderne Kulturwissenschaft an.
Diese gegenwärtige Anthropologievergessenheit ist eigentlich erstaunlich angesichts einer selbstbewussten Hirnphysiologie, die offensiv den »Angriff auf das Menschenbild« verkündet und sich immer mehr genuin philosophische Forschungsfelder aneignet. Der Einspruch gegen den physiologischen Reduktionismus erfolgt lediglich in den Spuren der Anthropologie-Kritik: in Form einer zur Gesellschaftskritik geläuterten Geschichtsphilosophie, in Form einer gemäßigten Betonung subjektiver Phänomene, in Form einer kulturellen Einbettung naturwissenschaftlichen Arbeitens – nicht jedoch im Namen der Anthropologie.
In diese Situation tritt nun die voluminöse Arbeit von Joachim Fischer, die man wohl als eine Erinnerung an eine große philosophische Möglichkeit und als Anstoß zu ihrer Fortsetzung lesen darf: Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jh.s. Der Untertitel zeigt an, dass hier nicht einfach ein weiteres, nur um­fangreicher geratenes Überblicks- oder Einführungswerk vorliegt, sondern ein ganz eigener, um nicht zu sagen: gewöhnungsbedürftiger Zugang zum Thema verfolgt wird. F. unterscheidet nämlich »Philosophische Anthropologie« im Sinne eines neuartigen, charakteristischen Denkansatzes des 20. Jh.s, der gleichrangig neben vielen anderen Strömungen steht, von der »philosophischen Anthropologie« als einer Sub-Disziplin der Philosophie, die auf das Problematischwerden der menschlichen Selbstverständigung reagiert und die verstreute Reflexionsgeschichte des Menschen aufzuarbeiten beginnt. Zur »Denkschule« der Philosophischen An­thropologie gehören für F. im Kern die Philosophen Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen und Erich Rotha­cker sowie der Biologe Adolf Portmann. F. gibt zu, dass ein gemeinsamer Denkansatz bei diesen Autoren keineswegs auf den ersten Blick erkennbar ist; ein ausgeprägtes Problembewusstsein zeichnet überhaupt sein gesamtes Vorgehen aus. In einem ersten, fast 500 Seiten umfassen den Teil legt er eine »realgeschichtliche Erzählung« vor, darauf folgt ein kürzerer zweiter Teil zur »Philosophiegeschichte« im engeren Sinne. Konkret geht es zunächst darum zu zeigen, dass die Philosophische Anthropologie sich in einem »Netzwerk von Denkern mit einem trotz aller Differenzen gemeinsamen Bewußtsein eines theoretischen Ansatzes« gebildet hat und dass sich realgeschichtlich bei allen Differenzen, Rivalitäten und Absetzbewegungen dennoch eine Art Schulbildung vollzogen hat, die ein statt­-liches Textcorpus und eine beachtliche Wirkungsgeschichte vorweisen kann.
F. erzählt diese Geschichte verständlich und kurzweilig, ge­stützt auf eine beeindruckende Detailkenntnis, die ihn dennoch nie den roten Faden verlieren lässt. Den gesamten Entwicklungsgang teilt er in neun Phasen ein: Genese (1919–1927), Durchbruch (1927/28), Interregnum (1928–1934), Neueinsätze (1934–1944), Turbulenzen (1945–1950), Konsolidierung (1950–1955), Nachfolge (1955–1960), Driften (1961–1969), Rückgang (1969–1975). In diesem Rahmen liefert F. einerseits ausgezeichnet unterrichtende Handbuchartikel über die genannten Hauptautoren. Andererseits re­konstruiert er die vielfältigen Ausstrahlungen in andere Fächer, von der Soziologie über die Psychiatrie bis hin zur Theologie. Zugleich bietet seine »Realgeschichte« auch ein spannendes Lehrstück in Sachen Wissenschaftspolitik; besonders bemerkenswert ist hier die Rolle der Vertreter der »Frankfurter Schule« (311 ff.). Jürgen Habermas’ Anthropologie-Artikel im »Fischer-Lexikon Philosophie« von 1958 etwa war sicher ein Meilenstein im Kampf gegen den Einfluss der Philosophischen Anthropologie. Schließlich erfährt man auch vieles über die schwierigen persönlichen Verhältnisse zwischen den Protagonisten, allen voran Scheler, Plessner und Gehlen, zwischen denen praktisch von Anfang an nicht nur ein Verhältnis der Rivalität, sondern auch der schwerwiegende Plagiats-Vorwurf (Scheler gegenüber Plessner, Plessner gegenüber Gehlen) für Distanzen sorgt. F. gelingt es, gerade in dieser schwierigen Frage zu nüchternen, unparteiischen Einschätzungen zu gelangen (85–89). Im Abschnitt »Rückgang« stellt F. dann minutiös dar, wie die (vor allem infolge der persönlichen Differenzen) ausgebliebene Institutionalisierung zur Historisierung und schließlich zur Zersetzung des Denkansatzes in der Kritik führt.
Der zweite Teil des Buches widmet sich dem Nachweis, dass es trotz des Bildes, das vor allem die Einzelforschung zu Scheler, Plessner und Gehlen bisher verbreitet hat, einen gemeinsamen, unverwechselbaren Denkansatz gibt. F. geht von den gemeinsamen Abgrenzungen aus (z. B. gegenüber dem Cartesianismus, dem Neukantianismus, der Existenzphilosophie) und von der philosophischen Gebundenheit der wichtigsten Autoren an den deutschen Idealismus, mit dem sie jedoch zugleich brechen. Hier, in diesem grundsätzlichen Korrekturprojekt der Philosophischen Anthropologie, wird es systematisch spannend. Wovon gilt es sich abzusetzen? F. fasst die problematische Ausgangslage zusammen: »Das seit der griechischen Philosophie freigesetzte Selbstbild des autonomen ›homo sapiens‹ steigert sich hier zur idealistischen Erhabenheit eines dualistischen Lebensgefühls, das die körperfreie Autonomie seines denkenden Ich einerseits, die wissenschaftlich durch das denkende Ich feststellbare Welt der Körper andererseits entdeckt.« Die Philosophische Anthropologie will die durch den Idealismus ausgeschlossenen Phänomene philosophisch rehabilitieren und den simplen Dualismus überwinden. Dies geschieht durch den Entschluss, »Geist« nicht länger gegen das »Leben« auszuspielen und den Spieß auch nicht einfach umzudrehen (wie die rebellierende Lebensphilosophie), sondern Geist im Leben aufzubauen. Nicht bei der Selbstgewissheit des Geistes liegt also der Ansatzpunkt, sondern beim Tatbestand des Lebendigen, das mit dem distanzierten Blick des Biologen untersucht wird, als lebendiger Körper in seiner Umwelt. Daher, so F., ist die Biologie die Referenz­wissenschaft der Philosophischen Anthropologie. Daraus entwi­ckelt sich der neuartige, philosophisch reflektierte Kontakt zur Empirie, der die Philosophische Anthropologie auszeichnet.
Worum geht es nun F.? Er will sich nicht mit der Frage beschäftigen, ob der von ihm dargestellte Denkansatz wahr oder falsch ist, ob er mehr oder weniger als andere Denkansätze leistet (479.505). Sein Ziel ist aber auch nicht Traditionspflege, nicht bloß Vergewisserung eines philosophischen Erbes. Eher scheint er auf eine Regeneration der Philosophischen Anthropologie zu hoffen, und seine Arbeit soll dazu neue Anknüpfungsmöglichkeiten bereitstellen. Eine Regeneration der Philosophischen Anthropologie würde allerdings – das kann gerade F.s Darstellung zeigen – eine andere, nicht reduktionistisch und funktionalistisch ausgerichtete Biologie etwa nach der Art Portmanns voraussetzen; mit einer solchen Biologie könnte die Philosophie dann wieder in einen fruchtbaren Kontakt treten.
Insgesamt beeindruckt F.s Arbeit durch ihre äußerst umsichtige und subtile Argumentation für eine eigene Denkschule Philosophische Anthropologie. Wer – wie der Rezensent – der These F.s zu­nächst skeptisch gegenüberstand, macht im Verlauf der Lektüre nach und nach die Erfahrung, dass er sich hier einem außerordentlich kundigen Reiseführer anvertrauen kann, dem es gelingt, eine Gegend, die man eigentlich gut zu kennen glaubte, wie ein ganz neues Land erscheinen zu lassen.
F.s Studie konnte der Theologe Friedrich Ley in seiner Hallenser Dissertation zu Arnold Gehlens Begriff der Religion nicht mehr verarbeiten. Der erweiterte Blick auf die Denkschule hätte z. B. zeigen können, wie stark Gehlens Kritik an Luther und dem durch ihn geprägten kulturellen Habitus mit derjenigen Plessners übereinstimmt, vielleicht sogar von ihr abhängig ist. Aber L.s Anliegen ist ein anderes, er will zunächst einmal Gehlens eigene Stimme wieder hörbar machen, die immer noch im Nachhall des Chors der Gehlen-Kritiker unterzugehen droht. Konkret stehen Gehlens Äußerungen zum Thema Religion im Mittelpunkt. L. rekonstruiert daher minutiös die Entwicklungsgeschichte von Gehlens Religionsbegriff, angefangen bei »Der Mensch« (1940) über »Urmensch und Spätkultur« (1956) und »Die Seele im technischen Zeitalter« (1949/1957) bis zu »Moral und Hypermoral« (1969) und »Zeit-Bilder« (1960). Dabei kann er einmal zeigen, wie wichtig das in der Forschung bisher weitgehend unbeachtete Thema in Gehlens Werk ist. Zum anderen weist L. nach, dass das Konzept von Religion erhebliche Veränderungen durchmacht, und zwar in Abhängigkeit von Gehlens Zeitdiagnosen und kulturkritischen Positionen. Beständig bleibt dagegen Gehlens eingeschränkter Zugang zum Phänomen Religion: Er ist interessiert an ihrer Funktion für Individuum und Gesellschaft. Dass damit das Phänomen Religion nur unzureichend erfasst werden kann, liegt auf der Hand.
Sieht man einmal über das Problem dieses funktionalen Reduktionismus hinweg, sorgen L.s Beobachtungen für einen erheblich differenzierteren Blick auf Gehlens Werk. So konstatiert der Schluss­abschnitt der Anthropologie von 1940 noch recht nüchtern die Auflösung der Religion im alten Sinne. Bis dahin sei sie durch drei Funktionen relevant gewesen. Sie bot: 1. eine systematische Ge­samtdeutung der Welt und der Rolle des Menschen in ihr; 2. eine Handlungsformierung als Kultivierung der menschlichen An­triebsenergien; 3. eine Kontingenzbewältigung, das Spenden von Halt und Trost in den Grenzerfahrungen der Ohnmacht. Die Ge­samtdeutung werde nun von der naturwissenschaftlich-technischen Weltanschauung übernommen, die Handlungsformierung verselbständige sich, und nur im dritten Aspekt besitze Religion nach wie vor eine Aufgabe. Doch schon in »Urmensch und Spätkultur« wendet Gehlen seinen Gedanken der »Entlastung« auf die Religion an, die nun als eine Form der »Vereinfachung« gilt und Da­seinsstabilität gewährt. Auch geht er dazu über, die Religion als Fundament der gesellschaftlichen Normorientierung zu rehabilitieren. Daneben wertet er Religion auf, weil sie das Potential habe, die Daseinshärte zu thematisieren, weil sie etwas zu sagen habe in den Fällen des Lebens, wo es »ernst« werde (Erfahrungen der Unverfügbarkeit, der Fehlbarkeit, der Endlichkeit). Seine Kritik gilt nun den Tendenzen in Theologie und Kirche, die »den harten Themen des dogmatischen Spektrums in zunehmendem Maße die Aufmerksamkeit versagen und statt dessen zu Fragen des gesellschaftlichen Lebens Stellung nehmen« (439).
Hier werden L.s Ergebnisse über die werkgeschichtliche Dimension hinaus zum Anstoß für die gegenwärtige kirchliche Selbstverständigung. Kann Kirche Bedeutung zurückgewinnen, wenn sie versucht, an kurzfristige gesellschaftliche Trends anzuschließen? Kann Kirche überhaupt in irgendeinem Sinne »zeitgemäß« sein? Soll sie sich bemühen, auf dem Markt der individuellen Selbsterfahrungsangebote mit Yoga und Naturheilkunde zu konkurrieren? Hat Kirche eine Chance, als säkulare Sozialagentur zu überleben?
L. betont, dass Religion es nach Gehlens Auffassung mit der Thematisierung von Lebenskrisen zu tun habe, nicht mit Bedürfnissen der Wellness und des allgemeinen Wohlbefindens. Die Funktion der Lebensorientierung könnten christliche Symbole und Rituale wahrnehmen, aber nur, solange sich die Religion »nicht beteiligt an der Verharmlosung der Wirklichkeit, die in Form der Ästhetisierung und Kommerzialisierung des Sinnbedürfnisses immer stärker in den Vordergrund tritt« (445). Religion könne dann wieder eine wichtige Rolle spielen, wenn Ereignisse und Erfahrungen »von letzter Bedeutung« mit Sinn hinterlegt werden müssen. Die im Leben begegnende Daseinshärte könne, so L., nur in entsprechenden, theologisch »harten« Kategorien adäquat zur Sprache gebracht werden. Das heißt z. B. konkret: Der liebende Gott sollte den zürnenden Gott nicht verdrängen, das Erschließungspotential eines in sich spannungsreichen Gottesbildes sollte nicht leichtfertig verspielt werden, weil Religion damit gerade die Domäne abbaut, die ihr eine fortgesetzte Existenz auch in der Moderne sichern könnte.
Allerdings stellt sich die Frage, welche Rolle »Daseinshärte« eigentlich noch unter den Bedingungen einer modernen Wohlstandsgesellschaft spielt. Der Anthropologe Gehlen begreift den Menschen (aber auch solche Größen wie »Kultur« oder »Gesellschaft«) stets vor dem Hintergrund der Gefährdetheit seiner Exis­tenz. Er fragt etwa, wie der Mensch überleben konnte und über­-leben kann, er fragt danach, woher Stabilität, Kontinuität und Dauerhaftigkeit der menschlichen Existenz kommen. Die gegenwärtige Gesellschaft hält dies alles für selbstverständlich garantiert und richtet ihr verfeinertes Sicherheitsstreben auf immer neue Lebensbereiche, sie arbeitet nicht nur praktisch am Verschwinden der Härte, sondern auch moralisch an ihrer generellen Skandalisierung. Da dürften es »Ernstfall«-Denker wie Arnold Gehlen nach wie vor schwer haben.
L.s Dissertation hat einige formale Schwächen, sie ist zuweilen redundant geschrieben, und es stören die Flüchtigkeitsfehler bei Namen (»Helmut Plessner«, »Henry Bergson«, »Wolfhard Pannenberg«; »Hans Lenk« statt »Kurt Lenk«). Diese Mängel schwächen jedoch nicht das Verdienst, das die Arbeit insgesamt besitzt. L. ge­lingt es tatsächlich, durch eine in ihrer Sorgfalt vorbildliche Rekonstruktion Gehlens eigene Stimme wieder hörbar zu machen. Neben den entwicklungsgeschichtlichen Ergebnissen, die die zukünftige Gehlen-Forschung nicht umgehen kann, gibt L. – durch seinen Autor inspiriert – auch sehr bedenkenswerte Anstöße für die kirchliche Selbstverständigung in der Gegenwart.
Beide Studien setzen neue Maßstäbe in der Forschung. Es ist ihnen breite Beachtung zu wünschen.