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Ausgabe:

Februar/2012

Spalte:

213–215

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Röcke, Werner, u. Julia Weitbrecht [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Askese und Identität in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit.

Verlag:

Berlin/New York: de Gruyter 2010. VI, 307 S. m. Abb. 24,0 x 17,0 cm = Transformationen der Antike, 14. Geb. EUR 79,95. ISBN 978-3-11-022836-6.

Rezensent:

Albrecht Diem

Keine Rose ohne Dornen – und keine Konferenz ohne Sammelband. Denn so fordern es die Geldgeber, die offensichtlich noch nicht von jener kürzlich veröffentlichten Studie japanischer Wissenschaftler gehört haben, derzufolge die gesamte Erdoberfläche im Jahr 2200 anderthalb Meter hoch mit conference proceedings bedeckt sein wird. Dieser Band enthält 15 Einzelstudien, von denen einige ohne Weiteres in angesehenen Fachzeitschriften veröffentlicht werden könnten, die aber miteinander nicht allzu viel zu tun haben. Der für solche Projekte sinnvolle – eigentlich sogar notwendige – Zwi­schenschritt, die jeweiligen Beiträge gegenseitig zu lesen, zu kommentieren und aufeinander zuzuschreiben, hat vermutlich nicht stattgefunden.
Die von den Herausgebern gestellte Frage nach der Wechselwirkung zwischen Askese und Identitätsbildung ist wichtig und würde einen Beitrag zum aktuellen Forschungsfeld der Identitätsforschung liefern. Die von Christof Rapp und Hans-Georg Soeffner vorgenommene Inventarisierung des Askesebegriffes ist nützlich und erhellend. Die Pflöcke, die sie im Wesentlichen durch die Bildung von Gegensatzpaaren einschlagen (ascesis als Übung/Selbstverleugnung; philosophische/christliche Askese; körperliche/geistige Askese; der vernachlässigte Körper/der Körper als Obsession; Enthaltung/Ertüchtigung; Rückzug/Performanz etc.), wären zur Abgrenzung eines asketischen Raumes und als Basis zur Diskussion durchaus geeignet, doch bewegt sich fast jeder Beitrag außerhalb dieses Raumes, versucht das jeweilige Forschungsfeld »auf Askese zu trimmen« und führt hierfür die jeweils passende Askesedefinition ein – häufig im problematischen Umkehrschluss, dass jede potentielle Manifestation von Askese (Eheverzicht, sexuelle Enthaltung, Reise, das stoische Ertragen von Unbill, Mönchtum, Leben in der Wüste, Flucht, Affektbeherrschung etc.) tatsächlich dann auch immer Askese sein muss oder gar Askese definiert.
Liest man die jeweiligen Artikel für sich, so stellen die meisten interessante Beiträge zu ihren jeweils verschiedenen Forschungsfeldern dar, wobei die etwas erzwungene Klammer der Askese (und die Verabredung, Foucaults Sorge um sich mal wieder aus dem Schrank zu holen) manchmal allzu sehr ins Deskriptive abgleitet und der bewusst weite Zeitrahmen und der komparative Ansatz immer wieder dazu führen, dass Beiträge die Grenzen der jeweiligen wissenschaftlichen »comfort zone« überschreiten. Gelegentlich stolpert der Leser über Termini und Kategorien, die aufgrund ihrer Zeit und Kulturgebundenheit in einer historischen Analyse seltsam anmuten, wie zum Beispiel »Amtskirche«, »Scheinehe«, »bürgerliche Ehe« oder »primitive Kulturen« etc.
Lutz Bergmans Beitrag konfrontiert den spätantiken satirischen Roman Der goldene Esel mit stoischen Textformen und Textfunktionen und stellt – überzeugend – fest, dass entgegen jeglicher Intuition dieser Text tatsächlich als Ausdruck stoischer Philosophie gelesen werden kann.
Ulrike Zellmann behandelt anhand der Traumnovelle Hypnerotomachia Poliphili einen jeglichen Askeseidealen entgegengesetzten Text, der, im Sinne einer durch den Humanisten Lorenzo Valla formulierten Ethik der Lust, Kritik an einer idealisierten sexuellen Enthaltsamkeit übt – an sich ein wichtiger Beitrag zum ansonsten nur angetippten Thema der sich vielfältig manifestierenden Kritik an der Postulierung »asketischer« Standards.
Hubertus Lutterbach wirft die Frage auf, ob sich religionssoziologisch eine Verbindung herstellen lässt zwischen dem Ideal der durch Demut (sich klein machen) bedingten Wirksamkeit des Gebetes und der liturgischen Rolle von Kindern und »reinen« Kinderstimmen, ob also das Sprichwort vom »Kindgebet, das durch die Wolken dringt« als heuristische Kategorie geeignet ist.
Markus Schürers sehr deskriptiver Beitrag kontrastiert die Schweigegebote der Regula Benedicti mit der Praxis der Karthäuser und dem pastoralen Ideal der Franziskaner und Dominikaner und kommt zum Schluss, dass sich in den Bettelorden eine Abkehr vom asketischen Ideal der Schweigsamkeit vollzieht.
Julia Weitbrecht und Werner Röcke zeigen anhand des Vergleiches von Texten aus verschiedenen Epochen, wie sich zwei als asketisch definierte Motive, das der keuschen Ehe bzw. der Ehe-Flucht und das der Weltflucht, im Laufe des Mittelalters entwickelt und verändert haben. Der Nachdruck, den beide auf das Motiv der Rückkehr legen, ist wichtig, doch unterliegen solche Textvergleiche oft der Gefahr, dass dabei herauskommt, dass sie similar yet different sind.
Katharina Greschat setzt sich mit der vor allem von Harnack postulierten These auseinander, dass das Christentum »an sich« keine von Askese geprägte Religion und abendländische monastische Askese eher das Produkt eines dumpfen Vulgärkatholizismus sei. Sie zeigt, dass christliche Askese (zumindest im Werk Papst Gregors I.) die Ausdrucksform einer differenzierten »Sorge um sich« sei und dass die Entscheidung zum monastischen Leben durchaus nicht als Askese der Verneinung gesehen werden könne.
Hildegard Elisabeth Keller untersucht die Entwicklung des Wüstenbegriffs im Spannungsverhältnis zwischen Realität, Metapher, Allegorie und textueller Tradition. Niklaus Largier beschäftigt sich, aufbauend auf Foucault, mit asketischem Handeln als performativem Akt, wobei seine Beobachtungen wohl eher als Angebot verstanden werden sollten, wie man die Quellen lesen könnte, als dass sie sich aus den Quellen heraus entwickeln würden.
Die Sache mit den Dämonen, die Harald Haferland in seinem Beitrag diskutiert, mag komplizierter sein, als er es mit seinem Postulat der Dämonen als externalisiertes sündiges Begehren annimmt. Seine Vermutung, dass im Umgang mit dem allen Menschen innewohnenden Begehren ein zentraler Unterschied zwischen spätmittelalterlicher Mystik und spätantiker asketischer Praxis besteht, ist überzeugend, doch wäre es interessant einmal zu schauen, wie viel »Seuse« sich in manchen Experimenten spätantiker Selbstperfektion findet, sobald man die Vermutung eines kohärenten spätantiken ›asketischen‹ Diskurses aufgibt.
David Konstan weist auf der Basis spätantiker Romanliteratur einerseits darauf hin, dass sich hinter ähnlichen und augenscheinlich repetitiven Er­zählmustern unterschiedliche Programme und Intentionen verbergen können (sexuelle Symmetrie, männliche Dominanz, Entwicklung einer sexuellen Rollenidentität), dass aber andererseits, wie sich aus dem Vergleich von hellenistischen Romanen und apokryphen Apostelakten ergibt, unterschiedliche literarische Formen ähnliche Konzepte vermitteln können.
Der letzte Beitrag von Stefan Möckel beschreibt wie eine frühmoderne Nachdichtung des spätantiken erotischen Romans Leukippe und Kleitophon den Stoff in Richtung einer auf Affektbeherrschung ausgerichteten »Ökonomie der Liebe« umdeutet.
Ein Blick in den Du Cange oder eine einfache Suche im Patrologia Latina Database zeigen, warum der Band problematisch ist. Eine Latinisierung des griechischen Begriffes askesis hat wahrscheinlich bis ins 17. Jh. nicht stattgefunden. Sobald man in der Patrologia Latina »medieval authors only« anklickt, verschwindet die Askese. Der Term asceticus gehört zu den Begriffen, die die Geschichtsforschung nachträglich und wirkungsmächtig einer Vielzahl Einzelphänomenen übergestülpt hat und damit wohl kaum zur Erhellung beigetragen hat. Die eigentlich interessante Frage, ob sich die askesis der griechischen Philosophie tatsächlich innerhalb des christlichen Diskurses kohärent in christliche Lebenskonzepte ge­wandelt hat oder ob es sich hierbei um ein eher irreführendes historiographisches Konstrukt handelt, beantwortet der Band nicht. Ob im Mittelalter trotz der Abwesenheit eines verbindenden Begriffes tatsächlich eine Kategorie bestand, die alle Erscheinungsformen von renuntiatio, conversio, conversatio, mortificatio etc. miteinander verbunden hat, ist zu bezweifeln. Es muss allerdings auch nicht unbedingt der Fall gewesen sein. Nur sollte man nicht so tun, als ob es so war.