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Ausgabe:

Februar/2012

Spalte:

209–210

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Delgado, Mariano, u. Volker Leppin [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Der Antichrist. Historische und systematische Zugänge.

Verlag:

Fribourg: Academic Press Fribourg; Stuttgart: Kohlhammer 2011. 615 S. m. Abb. 23,0 x 16,5 cm = Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte, 14. Geb. EUR 69,90. ISBN 978-3-7278-1675-8 (Academic Press Fribourg); 978-3-17-021550-4 (Kohlhammer).

Rezensent:

Martin Brecht

Die 28 Beiträge des Bandes, mehrere davon von Theologen und Historikern der Universität Freiburg (Schweiz) verfasst, bieten als Ertrag zweier wissenschaftlicher Symposien insgesamt eine weitgehend umfassende Behandlung des Gegenstandes. Die deutsche und die englische Zusammenfassung am Schluss eines jeden Artikels erleichtern die Benutzung. Nicht nur die christliche Ausprägung der Vorstellung ist in den Blick gefasst, sondern auch die jüdische und islamische, denn darin liegt über die historische Betrachtung hinaus zum Teil die Aktualität des Themas. Über die historische Erinnerung hinaus erweist es sich auch an ganz unerwarteten Stellen als präsent.
Nach präludierenden Überblicken des ausgewiesenen Experten für die Materie McGinn und des vor allem auf die Vereinigten Staaten konzentrierten Hans. J. Hillerbrand wird zunächst die Formierung des Konzeptes in den Heiligen Schriften vorgeführt. Der Wurzelboden ist die frühjüdische Eschatologie, wenn auch noch ohne scharfe Konturierung (Max Küchler). Die Bezeugung in Randbereichen des Neuen Testaments wird von Beate Kowalski nachgezeichnet. Die Stellen sind begrenzt und gehören komplementär in den Kontext der Parusie Christi und der Apokalyptik. Auch der Islam kennt in seinen prophetischen Traditionen den »falschen Christus« (Asma Hilali).
Die Vorstellung bei den Kirchenvätern ist nicht homogen. Wirkmächtig wird von Irenäus über Hippolyt von Rom bis zu Augustinus vor allem der als historische Person im Zusammenhang mit dem Chiliasmus gedachte Antichrist (Martin Wallraff). Die große Konjunktur beginnt erst im Mittelalter mit dem biographischen Traktat des Adso von Montier-en-Der, gest. 992. Ganz deutlich ist die Verortung im Bereich der westfränkischen Karolinger und der Reform von Gorze gegenüber den Ottonen (Volker Leppin).
Spätestens von jetzt an erfolgt schon durch das Mittelalter hindurch die Verknüpfung der Vorstellung mit immer neuen kritischen politischen Situationen (Hans-Joachim Schmidt), die sich freilich irgendwann dann auch abnutzen konnte, wenn das Ende der Geschichte ausblieb. Eine Verschärfung trat mit dem abendländischen Schisma ein, indem nunmehr von Wyclif, Hus und ihren Anhängern das Papsttum mit dem Antichrist identifiziert wurde (Wolf-Friedrich Schäufele). Auch Luther machte sich diese Sichtweise dann mit der Gegenüberstellung von Christus und dem Papst zu eigen. Auf die ikonographischen Zusammenhänge mit dem Straßburger Bildertext hätte Christoph Burger vielleicht noch näher eingehen können. Insgesamt ist das Quellenmaterial beispielsweise in Literatur und Chronistik noch reicher als der Band erkennen lässt. Auch im Judentum gibt es vom Mittelalter bis in die Neuzeit mit Armilos den Gegenspieler zum Messias, bis dieser ihn schließlich überwindet (Lutz Greisiger). Nach Volker Reinhardt trat hingegen in der italienischen Renaissance das Thema Antichrist zumeist zurück, da nunmehr die eschatologische Perspek­tive keine größere Rolle mehr spielte. Die protestantische und die römische Idee des Antichris­ten in der Konfessionspolemik wird von Ingvild Richardsen zusam­mengenommen betrachtet. Dabei werden freilich historische Nuancen auch eingeebnet. Luthers Identifikation der Institution des Papsttums kommt doch wohl eine eigene Wucht zu und die Bedrängnis des Interims bedeutete für die Protestanten eine spezifische Zu­spitzung. Die katholische Reaktion erfolgte eigentlich erst in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s. Die Gegenreformation erklärte als Retourkutsche Luther zum Wegbereiter des Antichrist. Ihren Höhepunkt erreichte die Auseinandersetzung, die nunmehr auch politische Relevanz bekam, mit dem Regensburger Kolloquium 1601.
Die Vorstellung blieb aber nicht allein auf den deutsch-römischen Bereich bezogen. Die Protestanten in Frankreich applizierten den Mythos auf Ludwig XIV. (Jean Robert Armogathe). In England wurde dieses Feindbild säkularisiert zum bedrohenden Universalmonarchen (Thomas Lau). Wie sich das Problem in der damaligen englischen Apokalypseauslegung darstellte, erfährt man leider nicht. In der spanischen Bedrohungs- und Trostliteratur spielt die Apokalyptik seit dem Frühmittelalter ständig eine Rolle und wird auf immer neue historische Herausforderungen bezogen, wobei geschichtsbedingt aber der einmalige Kristallisationspunkt zu fehlen scheint (Mariano Delgado). Eine übernationale Evaluation, die kritisches Nachdenken hätte auslösen können, hat es europaweit infolge der jeweiligen angstvollen Betroffenheit also lange nicht gegeben. Damit endet die zusammenhängende historische Verfolgung des Themas. An dieser Stelle vermisst man allerdings ein Eingehen auf die Eschatologie des Pietismus, die eine Brücke in den weiteren Verlauf der Geschichte hätte bieten können – eindeutig ein blinder Fleck!
Die weiteren Beiträge wenden sich zunächst dem Antichrist in Theologie, Philosophie und Politik zu, beispielsweise eher zufällig einem eschatologischen Versatzstück von 1940 bei Walter Benjamin (Kurt Anglet). Auch John Henry Newman dürfte in dieser Angelegenheit kein profilierter Gewährsmann sein (Roman Siebenrock). Für die Aufmerksamkeit auf den Antichrist im christlichen Fundamentalismus wird zunächst auf die Bestseller von Lindsey und LaHye in den vergangenen Jahrzehnten und ihren Hintergrund hingewiesen (Richard Hempelmann). Adventismus, Zeugen Jehovas, Mormonen und Scientology erfahren eine eigene Darstellung (Lothar Gassmann). Aggressiv und radikal anders stellt sich die Übernahme des Antichrist-Mythos bei Nietzsche dar (Jean-Claude Wolf).
Für Russland ist die Antichrist-Erzählung von Vladimir So­-lov’ev (1900) nur ein Beleg. Auch für das postsowjetische Russland gibt es Heilsdeutungen als Gegenspieler des Antichrist (Mi­chael Hagemeister). In der antiwestlichen Polemik des modernen Islam wird bisweilen die Gegenfigur des Dajj herausgestellt (David Cook). Die modernen Kulturtheoretiker Rene Girard und Ivan Illich sowie der englische Theologe Oliver O’Donovan ziehen die Antichrist-Theorie heran, um auf die Gefährdungen der freiheitlichen modernen Gesellschaft aufmerksam zu machen (Wolfgang Palaver). Der im Luthertum immer noch virulenten Frage, ob das Papsttum mit dem Antichrist zu identifizieren sei, geht Volker Leppin nach. In der Literatur des 20. Jh.s begegnet der Antichrist immer wieder als Ausdruck akuter apokalyptischer Befürchtungen (Georg Langenhorst). In Polen wird allerdings ein Verschwinden des Antichristlichen konstatiert (Jan Zielinski). Wenn auch disparat, kommt der Antichrist seit Polanskis Rosemary’s Baby sowohl in Horror- als auch in fundamentalistischen Filmen vor (Reinhold Zwick).
Die Bestandsaufnahme der Problematik ist unbestreitbar eindrücklich, zumal sie über den historischen Abriss hinausgeht. Leider ist auf eine bewertende Conclusio verzichtet worden, obwohl sich etwas Derartiges doch aufdrängt. Durch die ganze Geschichte haben sich die Antichrist-Befürchtungen dann doch nie bewahrheitet. Aufgrund dieser Erfahrung sollte die Zukunftserwartung von der Vorstellung Abstand nehmen. Nichtsdestoweniger wird mit der Möglichkeit der teuflischen Perversion des Heils und seiner Vermittlung nach wie vor zu rechnen sein.