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Ausgabe:

Februar/2012

Spalte:

201–202

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Damberg, Wilhelm, u. Staf Hellemans[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die neue Mitte der Kirche. Der Aufstieg der intermediären Instanzen in den europäischen Großkirchen seit 1945.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2010. 256 S. m. 9. Abb. 23,2 x 15,5 cm = Konfession und Gesellschaft, 42. Kart. EUR 32,00. ISBN 978-3-17-021655-6.

Rezensent:

Claudia Götze/Gert Pickel

Der von Wilhelm Damberg und Staf Hellemans herausgegebene Sammelband »Die neue Mitte der Kirche. Der Aufstieg der intermediären Instanzen in den europäischen Großkirchen seit 1945« greift die gegenwärtige Diskussion um die Herausforderungen der Moderne für die Kirchen in Europa und ihren Nationalstaaten auf. Herausstechend ist hierbei der neue Blickwinkel: Die aus einer Konferenz an der Ruhr-Universität Bochum im November 2008 hervorgegangenen Beiträge betrachten vornehmlich die Entwick­lung der Aufgaben- und Aktionsverschiebungen zwischen den verschiedenen Ebenen der katholischen und evangelischen Kirchen. Ganz gezielt werden dabei die intermediären Instanzen wie etwa Diözesen oder Kirchenkreise ins Visier genommen. Die regionale Ebene mit deren Instanzen – so die These – bekomme einerseits mehr organisatorisches und administratives Gewicht, trete aber andererseits auch als Produzent religiöser Angebote auf. Hieran zeige sich die Delokalisierung (11), verstanden als »Lockerung der Ortsgebundenheit«, innerhalb der Großkirchen, die in einem reziproken Prozess mit einer Neulokalisierung von Aufgaben und religiösen Angebotsstrukturen verbunden sei. Der zu beobachtende Aufstieg der intermediären Instanzen wird dabei als Folge gesellschaftlicher Veränderungsprozesse, gewachsener Aufgaben durch Säkularisierung und Anforderungspluralisierung der Mitglieder gedeutet. Bemerkenswert sind dabei die scheinbar ambivalenten Prozesse von Säkularisierung und Steigerung der Mitarbeiterzahlen sowie Funktionsaufgaben.
Diese lokalen Verschiebungen werden in den einzelnen Beiträgen des Sammelbandes länder- und strukturspezifisch entlang verschiedener Aktionsradien untersucht. Dabei bilden fast durchweg modernisierungstheoretische Annahmen den Ausgangspunkt für die Veranlassung von Strukturveränderungen. Fast alle Beiträge sind um substantielle empirische Fundierung der vorgelegten Aussagen sowie um ihre Anknüpfung an die aktuellen religionssoziologischen Debatten bemüht. Der eher kritische Umgang mit den Annahmen der Säkularisierungstheorie ist nachvollziehbar. Allerdings überzeugt auch die Position einer eher vagen Hoffnung auf die »ständige Wiedergeburt der Religion und der Kirchen« (217) nicht ganz – insbesondere, wenn davor die Privatisierungsthese Luckmanns als Bezug für das Religionsverständnis eingeführt wird.
Die Artikel, die sich mit der katholischen und der evangelischen Kirche in Deutschland befassen, bestätigen überwiegend die Grundthese des Bandes vom Aufstieg intermediärer Instanzen. Allerdings bieten die Beiträge jeweils einen anderen Fokus und damit eine begrenzte Vergleichbarkeit. Rosel Oehmen-Vieregge kann für die katholische Kirche in Deutschland den Anstieg der pastoralen Aufgaben feststellen, wobei sie dafür aus historischer Perspektive drei Diözesen untersucht. Hanspeter Hein betrachtet dagegen die synodalen Veränderungen und bezeichnet die Synoden als intermediäre Instanzen, die ebenfalls einen Aufstieg zu verzeichnen hatten, der gegenwärtig aber wieder abflaut (61).
Für die protestantische Kirche in Deutschland stehen sich die Artikel von Jan Hermelink und Sebastian Tripp gegenüber: Während Tripp die Landeskirche als Aufsteiger identifizieren kann, stellt Hermelink gut nachprüfbar die Kirchenkreise als Gewinner der De- und Neulokalisierung heraus (101). Fast gezwungenermaßen relokalisieren sich kirchliche Handlungs- und Gemeinschaftsformen unter den Bedingungen aktueller Anforderungen pluraler »Nachfrager« speziell dort, bestehen hier doch flexiblere und breiter zu fächernde Reaktionsmöglichkeiten als auf übergeordneter Ebene (z. B. Landeskirchen) (109). Allerdings fußen die Ergebnisse jeweils auf (wenigen) betrachteten Fällen. Deren Auswahl ist zwar gut begründet, berücksichtigt aber leider Ostdeutschland nicht. Gerade in Bezug auf dessen religiöse Sonderstellung mit einer kleinen Zahl an Konfessionsmitgliedern und gering besetzten oder regional weit gedehnten Kirchenkreisen wäre eine entsprechende Betrachtung sicher interessant gewesen. Auch der europäische Blick auf die protestantischen Kirchen ist nur eingeschränkt möglich, da lediglich der Vergleich mit der Dänischen Volkskirche durch den Beitrag von Lisbet Christoffersen erfolgt. Auch wenn die Autorin ebenfalls den Aufstieg der intermediären Instanzen vor allem auf Propstei- und Bistumsebene nachweisen kann, erschweren doch die Länder- und Kirchenspezifika zwischen Deutschland und Dänemark deren direkte Vergleichbarkeit. Zudem bleibt ungelöst, ob es sich vielleicht um zwei »Sonderfälle« handelt.
Bezüglich der katholischen Kirche ist der vergleichende Blick besser gelungen. Hier zeichnen Nicolas Brémont D’Ars für Frankreich und Henk Witte für die Niederlande die De- und Neulokalisierungen auf intermediärer Ebene nach. In beiden Ländern gewinnen die Diözesen in den letzten Jahren merklich an Gewicht.
Mit dem Aufsatz von Luca Diotallevi wird nun aber der Nutzen einer vergleichenden Perspektive deutlich. Im Gegensatz zu seinen Mitautoren sieht er den zentralen Begriff »intermediäre Instanz« des Titels, der oft auch mit intermediärer Ebene verbunden oder gar gleichgesetzt wird, nicht als gegebene Prämisse, sondern dis­-kutiert auf der Basis von Niklas Luhmanns systemtheoretischen Überlegungen zuerst seinen Bedeutungsgehalt (183). Damit wird der Beitrag insgesamt anspruchsvoller für den Leser, zugleich aber auch gewinnbringender hinsichtlich der Überlegungen zu innerkirchlichen Veränderungen im Zuge der Moderne und der Säkularisierung, weil Diotallevi damit die intermediären Instanzen als Organisationen mit Wettbewerbscharakter – wie ihn das Marktmodell des Religiösen als bedeutsam ansieht – auffassen kann. Er erhält auf dieser Grundlage ein differenziertes Bild des italienischen Falles, was zusätzlich aus dortigen komplizierten innerkirchlichen Strukturen resultiert. Eine eindeutige Schlussfolgerung bezüglich des Aufstiegs intermediärer Instanzen ist in dieser Betrachtungsweise nicht möglich, doch bemerkenswert ist, dass er Tendenzen in unterschiedliche Richtungen beobachtet.
Wie kaum anders zu erwarten, besteht die große Schwierigkeit für den Leser darin, die verschiedenen Puzzleteile der intermediären kirchlichen Ebenen Europas zu einem Gesamtbild zu verdichten. Erheblich erleichtert wird einem diese Aufgabe aber durch den gut verständlichen Abschlussbeitrag von Staf Hellemans und Wilhelm Damberg, die damit eine – in Sammelbänden nur zu häufig fehlende – Rahmung des Gesamtbandes schaffen. Akribisch sortieren sie die Puzzleteile in Rand- und Mittelstücke und nach verschiedenen Farben, um schließlich das Gesamtwerk zusammensetzen zu können. Dabei wird resümierend die These den Ergebnissen angepasst: Die Großkirchen Europas sind zu einem sich mit der Moderne transformierenden, ausdifferenzierten Mehrebenengebilde geworden, in dem ein Aufstieg der intermediären Instanzen überall zu verzeichnen ist, aber die inter- und intranationalen und -konfessionellen Unterschiede erheblich sind – und Auswirkungen besitzen. Natürlich bedarf auch ein fertiges Puzzle einer weiteren Interpretation der Bildinhalte, aber die Grundlage ist mit dem vieles an theoretischen Überlegungen und empirischem Material bietenden Band gelegt: Die intermediäre Ebene der christlichen Großkirchen Europas ist in den Fokus gerückt und der – von den Autoren eingeforderten – detaillierteren Betrachtung freigegeben.