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Ausgabe:

Februar/2012

Spalte:

194–196

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schapdick, Stefan

Titel/Untertitel:

Eschatisches Heil mit eschatischer Anerkennung. Exegetische Untersuchungen zu Funktion und Sachgehalt der paulinischen Verkündigung vom eigenen Endgeschick im Rahmen seiner Korrespondenz an die Thessalonicher, Korinther und Philipper.

Verlag:

Göttingen: V & R unipress; Bonn University Press 2011. 556 S. 24,0 x 15,8 cm = Bonner Biblische Beiträge, 164. Geb. EUR 67,90. ISBN 978-3-89971-610-8.

Rezensent:

Ulrich Mell

Es dürfte wohl gegenwärtig wenige Arbeiten zur paulinischen Theologie geben, die auf einen forschungsgeschichtlichen Abriss verzichten. Die Studie von Stefan Schapdick, die im Wintersemester 2008/09 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Habilitationsschrift angenommen wurde, gehört zu diesem rar gewordenen Genus historischer Paulusexegese. Denn seine Monographie zum Thema der »individualisierend bzw. personenbezogen« (16 f.) formulierten Eschatologie des Apostels darf für sich in Anspruch nehmen, dass »eine zusammenhängende Sichtung und Wertung des auf Paulus bezogenen Textmaterials« (17) fehlte. Diese Lücke hat S.s kompetente Publikation geschlossen, so dass künftige Paulusexegese nun ihrerseits S.s Ausführungen als forschungsgeschichtlich ersten Meilenstein wahrnehmen und zum Ausgangspunkt eigener Erwägungen machen kann.
S. fragt, ob »es im Rahmen der von Paulus propagierten christlichen Hoffnung auf eschatische Heilsvollendung eine eigenständige Vollendungserwartung (gibt), die sich allein auf ihn selbst als Person bezieht« (16). Gelte doch für Paulus, dass seine Christwerdung mit der Übernahme des spezifischen göttlichen Auftrags zur Völkermission verbunden sei.
Dieser Ausgangspunkt dürfte m. E. historisch nicht ganz korrekt sein: Zwischen der Berufung des Paulus in der damaszenischen Auferstehungsgemeinde und der literarischen Verarbeitung dieses Ereignisses in Gemeindebriefen (z. B. Gal 1; Phil 3) liegen zwei Jahrzehnte. In dieser Zeit wurde er zum Apostel (vgl. Gal 2,8) und entdeckte, dass das »Evangelium für die Unbeschnittenheit« (V. 7) eine torafreie Völkermission eröffnete, der er sich mit ›Haut und Haaren‹ verschrieb, als eine Verständigung über die Tora in Gemeinden aus Israel- und Völkerchristen ausblieb (vgl. V. 13 f.). Die eigene Entwicklungsgeschichte in christlicher Verkündigung und Theologie, gefördert durch Mentoren (Petrus vgl. Gal 1,18, und Barnabas vgl. Apg 11,25 f.; Gal 2,1) und anerkannt durch Autoritäten (vgl. V. 9) wie durch missionarischen Erfolg (vgl. Apg 13,12.43.48 f.), ließ Paulus in der Retroperspektive seine ehemalige Christwerdung als Beauftragung zum Völkermissionar beschreiben (vgl. Gal 1,16).
Versteht sich Paulus seit seiner ökumenisch angelegten Völkermission als göttlich beauftragter Apostel (Röm 1,1; 1Kor 1,1 u. ö.), so will S. wissen, (1.) ob »sein eschatologisches Denken offen für individuelle Ausprägungen« sei und, wenn ja, (2.) ob es »eine Relation zwischen dieser individuellen Hoffnung und seinem Apostolat« gibt, wie sie (3.) »sachlich konturiert« ist und ob es (4.) Gefahren gebe, »die seiner eigenen Rettung im Wege stehen können« (16).
Aufbauend auf einem guten Konsens zur paulinischen Briefchronologie bespricht S. alle individual-eschatologischen Texte (für 2Kor 13,4 wird ein eschatologischer Bezug verneint, vgl. 283–287). Grundlegend ist, dass Paulus nirgends Zweifel an seiner eigenen endzeitlichen Heilsvollendung äußert (vgl. 2Kor 4,9; 5,3, dazu 310.373–384), aber hofft, dass sein apostolischer Dienst Wirkung auf seine individuelle persönliche Heilsausstattung haben möge (vgl. 1Kor 3,8b), ja, dass für jeden Christen eine differenzierte Heilskonkretion bestehe (vgl. 3,13–15), ohne dass in der Gegenwart die zu­künftige forensische Bewertung des Lebenswerkes eines Menschen durch Gott bzw. Christus vorweggenommen werden könnte (vgl. 4,5). Aus einem großem Schatz exegetischer Erkenntnisse mögen einige wenige herausgegriffen werden (s. auch die Zusam­menfassung, 439–458):
Zum 1Thess: Insofern die Gemeinde sein »Ruhmeskranz« (2,19) bei der Parusie Christi sein wird, begründet sich für Paulus ein heilsindividueller Anspruch, da die Existenz der thessalonischen Gemeinde ihm »als persönliche Auszeichnung vor seinem Herrn und Auftraggeber« (66) zugute kommen wird.
Zum 1Kor: Pauli Verzicht auf finanziellen Unterhalt durch die Gemeinde ist ein Anstrengung kostendes ›Mehr‹ apostolischen Handelns, das sich heils­eschatologisch als ›Mehr‹ in Form von »Ruhm« (9,15 f.) und »Lohn« (V. 17 f.) niederschlagen wird (vgl. 131 f.). Der korinthischen Gemeinde aber bedeutet Paulus, dass auch ihr kompromissloser Einsatz und ihre enkratitische Lebensweise das in Christus gewonnene Heil bis zur Vollendung bewahren hilft (V. 24–27).
Zum Phil: Ebenso gemeindebezogen, nämlich im Rahmen einer »Einführung in die konkrete Gestaltung christlicher Glaubensexistenz« (446), spricht Paulus 1,23 – vor das Problem eines erzwungenen vorzeitigen Todes gestellt – von der Möglichkeit, bei Christus ein individuelles »Heilsinterim« (174) vor der Parusie Christi (vgl. 1,6.10) zu erhalten, wirbt aber dafür, dass »nicht das eigene Wohl, sondern das Wohl der Anderen … Maßstab des Handelns sein« soll (178, vgl. V. 24 f.). Darum propagiert er ein Ja zu einem Leben, das das gewaltsame Martyriumsschicksal nicht ausschließen kann.
Zum 2Kor: Im Zusammenhang einer Reetablierung seiner Beziehung zur Gemeinde bringt der Apostel 1,14 zum Ausdruck, dass nicht nur die endzeitliche Existenz der Gemeinde ihm (vgl. 1Thess 2,19), sondern reziprok auch sein »in göttlicher Gnade« (2Kor 1,14) geschehendes Wirken der korinthischen Gemeinde zum endzeitlichen »Ruhm« gereichen wird. In 5,1a–5b trägt Paulus sodann »in Auseinandersetzung mit Formulierungen oder Vorstellungen, die einem hellenistischen Denkhorizont zugeordnet werden können« (Bau- und Bekleidungsmetaphorik) eine nicht auf Verallgemeinerung angelegte »Individualeschatologie« vor (393), die »die uneingeschränkte Wahrung eigener personal-somatischer Identität im bruchlos gedachten Übergang zur eschatischen Wirklichkeit unterstreichen« soll (394). Um schließlich in V. 10 im Zusammenhang »eschatischer Verantwortlichkeit für das Handeln« (434) eine »forensische Kontur« endzeitlicher Gerichtsvorstellung vorzustellen: Das Gericht nach den Taten umfasst nach Paulus alle Christen, so dass in zwei Phasen nach der besiegelten Heilsanerkenntnis entsprechend einem »alternativ-kontrastiven Wertungsmaßstab« eine personenbezogene Entlohnung erfolgt (435).
Die Exegesen sind methodisch transparent zugänglich: Nach einer Problematisierung der literarischen Integrität eines Briefes folgt eine Einführung zur gemeindebezogenen Problemlage, darauf eine den Kontext berücksichtigende versweise Auslegung des Textabschnittes, die zum Teil durch Bemerkungen zur Syntax, Struktur und Wortwahl, wenn nötig mit Exkursen zur Traditionsgeschichte einer Vorstellung bzw. eines Begriffs (z. B. 167–173) ergänzt werden. Hinzu kommen Schaubilder zur Textstruktur (vgl. 154.334. 353.371 f.384). Die Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur ist vorbildlich, die Register sind übersichtlich.
Am Schluss unternimmt S. eine systematisch-theologische Zu­sam­menfassung zur »persönlichen Vollendungserwartung des Apostels« (470–475). Sie baut auf der Feststellung auf, dass Paulus’ eschatologische Vorstellungen in seinen Briefen kein Eigengewicht tragen, sondern von dem Anliegen seiner Ekklesiologie, strikt bezogen auf die jeweilige Apostel-Gemeinde-Relation, geprägt sind (vgl. 469). Aufgrund dessen lassen sich nur »Kohärenzen einzelner Vorstellungsgehalte« (470) aufzeigen: 1. Ob Paulus zu Lebzeiten (vgl. Phil 3,20 f.; 2Kor 5,1) oder als von den Toten Auferweck­ter in die eschatologisches Heil vermittelnde endzeitliche Parusie Christi eintreten wird, bleibt vage. 2. Im Rahmen eigener Vollen­dungserwartung rechnet Paulus mit einer körperlichen Metamorphose, legt sich hinsichtlich des konkreten Modus (Verwandlung, Auferweckung, Märtyrergeschick) aber nicht fest. 3. Zwar betont der Apostel für sein Handeln den Aspekt »eschatischer Verantwortlichkeit«, »ein fester Konnex von Parusie und Beurteilungsgericht besteht jedoch nicht«. 4. Im Zuge eschatischer Enderwartung erwartet Paulus aber »die göttliche Würdigung seiner eigenen Arbeit als Apostel« (472).
Kleine kritische Anfragen an diese orthographisch fast fehlerlose und optisch gut gelungene Monographie trüben nicht den überragenden Gesamteindruck: Da ist zunächst der Titel anzusprechen, der sachlich korrekt ist, dessen Sinn sich aber vermutlich nur einem humanistischen Bildungsbürgertum erschließt und von S. nirgends erläutert wird: etwa in der Hinsicht, dass er zwischen »eschatisch« im Sinne von letztgültigem Inhalt und »eschatologisch« im Sinne einer Darstellung letztgültiger Größen unterscheiden möchte. Auch würde es einer historisch-kritischen Arbeit besser anstehen, wenn im Untertitel die redaktionellen Überschriften der Paulusbriefsammlung nicht wiederholt, sondern von »Paulus’ Briefen an Gemeinden in Thessalonich, Korinth« etc. gesprochen würde. Sodann ist zu fragen, ob die Textauswahl dem gewählten Thema entspricht: Hätte nicht in einem ersten Durchgang festgestellt werden können, dass z. B. trotz Hinweisen der Literatur bei Phil 3,7–4,1; 2Kor 4,7–18 keine individualeschatologischen Aussagen vorliegen? Sodann ist schließlich verwunderlich, dass S. auf eine deutsche Übersetzung der Texte verzichtet. Ja, seine exegetische Analyse besteht teilweise aus einem Gemisch aus deutscher und griechischer Formulierung. So sicher durch eine deutsche Neucodierung wichtige Aspekte der griechischen Koine verloren gehen, so wäre doch der Vorwurf der Immunisierung durch Verwendung exegetischer Fachsprachlichkeit leicht vermeidbar gewesen.
Summa summarum ist in jeder Hinsicht zu unterstreichen: Wenn die Zielaussage paulinischer Hoffnung »eschatisches Heil und es­chatische Anerkennung« lautet, so »soll das Eine mit dem Anderen verbunden« sein. »Die persönliche Vollendungserwartung des Apostels richtet sich folglich grundsätzlich und eindeutig auf das eschatische Heil mit größtmöglicher eschatischer Anerkennung« (475).