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Ausgabe:

Februar/2012

Spalte:

190–192

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Nielsen, Jesper Tang

Titel/Untertitel:

Die kognitive Dimension des Kreuzes. Zur Deutung des Todes Jesu im Johannesevangelium.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. XIII, 335 S. 23,2 x 15,5 cm = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 263. Kart. EUR 69,00. ISBN 978-3-16-150017-6.

Rezensent:

Thomas Knöppler

Nach einigen Untersuchungen in den letzten Jahrzehnten zur johanneischen Bedeutung des Todes Jesu legt nun auch Jesper Tang Nielsen seine Sicht der Darstellung des Kreuzes im Johannesevangelium vor. Mit der durch eine narratologische Perspektive profilierten Arbeit wurde N. im Jahr 2003 an der Theologischen Fakultät der Universität Aarhus promoviert. Sie liegt nun »übersetzt und … gründlich überarbeitet« (VII) vor.
Auf die methodische Reflexion in der Einleitung (1–45) folgen im ersten Hauptteil unter der Überschrift »Die Anerkennung des Gottessohnes« (46–189) Überlegungen zum narrativen Verlauf sowohl der Sendung (46–89) als auch der Verherrlichung (89–140) und zur epochalen Wende (140–183). Der zweite Hauptteil handelt unter dem Titel »Die Gemeinschaft des Gottessohnes« (190–271) von der »Gründung der Gemeinde« (190–229) und von der »Grundlegung des Kultes« (229–268). Den Schluss bilden eine Auskunft über das »Ergebnis« (272–275), das Literaturverzeichnis (277–301) sowie ein Stellen-, Autoren- und Sachregister (303–335).
Die »durchgehenden johanneischen Themen« (183; Sendung, Verherrlichung, Lamm Gottes, Erhöhung, »jener Tag«, Vorhersagen, Fußwaschung) betonen nach N. die kognitive Funktion des Todes Jesu. Hier seien die Heilsaussagen an die Inkarnation und Sendung Jesu gebunden. Tod und Auferstehung Jesu seien nur als »grundlegende Zäsur zwischen zwei verschiedenen kognitiven Epochen« (88) heilsrelevant, insofern sie »das vollkommene Verständnis und die Anerkennung der Offenbarung Jesu« (183) ermöglichten. Nach Ansicht von N. markieren sie aber weder eine christologische noch eine soteriologische Zäsur.
»Die kleineren Motive des Evangeliums« (272; ὑπέρ-Wendungen, Bildwort vom Weizenkorn, Königsterminologie, Tempelmetaphorik, die »Stunde«, Wasser, Blut) bringen nach N. die pragmatischen Konsequenzen des Todes Jesu zum Vorschein. Das Kreuz sei hier insofern relevant, als dem »Kreuzestod … eine ekklesiologische und keine soteriologische Funktion« (198) zukomme. Der Tod Jesu werde zum Anlass für die Sammlung der glaubenden Gemeinde und zum Ausgangspunkt für ihren Kult.
Nach N. eröffnet der Tod Jesu drei verschiedene, auf die Gemeinde bezogene Räume. Der kognitive Raum entstehe dadurch, dass der Tod die göttliche Identität Jesu beweise. Weiter ergebe sich ein sozialer Raum, indem »Jesus durch seinen Tod die universelle Heilsgemeinde sammelt« (273). Schließlich konstituiere der Tod Jesu einen kultischen Raum, in dem die Gemeinde eine Sicherung der Gemeinschaft mit Gott erfahre.
Unter methodischem Bezug auf die narrative Semiotik nach A.-J. Greimas bestimmt N. die Funktion, die dem Tod Jesu in den narrativen Strukturen des Johannesevangeliums zukomme. Demnach ergäben sich für die durchgehenden Themen zum Tod Jesu auf der kognitiven Ebene vier Phasen (s. 184 ff.). In der ›Manipulationsphase‹ ergehe der Befehl Gottes an den Logos, ihn den Menschen zu offenbaren. In der ›Kompetenzphase‹ erhalte der Logos durch Inkarnation die Möglichkeit der Kommunikation mit den Menschen. Die ›Performanzphase‹ sei durch die Bemühungen Jesu bestimmt, die Menschen zu überzeugen; weil Jesus aber zweideutig sei, erfolge seine glorifizierende Prüfung im Kreuzestod. Die sich in der Auferstehung ereignende Sanktionsphase hebe diese Zweideutigkeit nicht auf, immerhin aber beweise sich Jesus den Auferstehungszeugen als Sohn und Offenbarer Gottes. Der zugänglich gemachte Gott werde durch Jesu Weggang zwar wieder unzugänglich. Die kleineren Motive aber bearbeiteten das Problem der erneuten Unzugänglichkeit auf der pragmatischen Ebene, indem sie den Tod Jesu als eine Aufhebung seiner physischen Beschränkung und also als eine räumliche und temporale Entgrenzung der Offenbarung verstünden, woraus die Gründung der Gemeinde und ihrer gottesdienstlichen Praxis resultiere.
Die Analyse des Johannesevangeliums nach narratologischen Kriterien hat gewiss ihren Reiz und bietet viel Zutreffendes. Das Hauptproblem besteht jedoch darin, dass N. sein narratologisches Denkmodell offensichtlich nicht aus dem vierten Evangelium heraus entwickelt hat. Weder das zugrunde gelegte »Heilsprojekt« (25) noch die Aufteilung zwischen durchgängigen Themen und kleineren Motiven werden am Text des Evangeliums erarbeitet.
Die philologischen Einzelanalysen treten deutlich hinter die elementarisierenden Ausführungen zum Textsinn zurück. Das narratologisch abgesicherte Schema des Weges Jesu zur Ermöglichung des Heils dominiert die Interpre­tation. Zuweilen begegnet auch ein unreflektierter Zugriff auf dogmengeschichtliche Termini, wenn etwa von »der göttlichen Natur Jesu« (43) die Rede ist oder Taufe und Abendmahl als vom johanneischen Jesus gestiftete Sakramente thematisiert werden (s. 252 ff.).
Im Anschluss an E. Käsemann (s. Wille, 33) sieht N. die Inkarnation allenfalls als »ein Kommunikationsmittel« (115, Anm. 188) zur Offenbarung der Herrlichkeit an. Ausgehend von den vier veridiktorischen Modalitäten be­hauptet er für die narrative Phase der Kompetenz (= Inkarnation) eine Kombination von göttlichem Sein und menschlichem Schein (s. 62 f.184 f.). Dagegen ist mit U. Schnelle (s. Christologie, 249 ff.) festzuhalten, dass das Johannesevangelium keineswegs doketische Züge aufweist.
In Hinsicht auf die Aufteilung der Arbeit ist nicht einsichtig, warum etwa die ὑπέρ-Wendungen den kleineren Motiven, aber die Rede von »jenem Tag« oder die Erzählung von der Fußwaschung den durchgängigen Themen zugerechnet werden.
Vor allem die Entfaltung der Hauptthese, der Tod Jesu habe für »die kognitive Dimension … fundamentale Bedeutung« (45), leidet un­ter einem Mangel an gedanklicher Klarheit. Denn schlüssiger kommt die kognitive Funktion der Auferstehung Jesu zum Vorschein.
Nach N. bestätigt der Kreuzestod die Juden in ihrer Ablehnung, den Jüngern aber die Identität Jesu als Gottessohn (s. 188 f.272; vgl. 166.239). Die kognitive Funktion des Kreuzes (s. weiter 178.182 f.187) gilt freilich nur eingeschränkt: »Im Lauf des Evangeliums bleibt diese Deutung aber eine Behauptung, die erst beim göttlichen Eingreifen in der Auferweckung bestätigt wird« (178; s. auch 172.239.268). Und: »Durch die Kreuzigung wird Jesu Status als Sohn Gottes eindeutig« (166), aber ohne die Auferweckung »wird Jesu Identität nicht offenbar« (ebd.). Entsprechend fördert die Untersuchung der beiden durchgängigen Themen der Sendung und der Verherrlichung (s. 46–140) nicht »Die kognitive Dimension des Kreuzes« (Titel) zutage, sondern führt zur »Feststellung einer epochalen kognitiven Wende bei der Auferstehung Jesu« (140; s. auch 43 f.175 f.). Dieses (vom eigentlichen Ziel der Arbeit abweichende) Ergebnis ist keineswegs zufällig; denn es deckt sich mit dem Hinweis im Evangelium selbst (2,22; vgl. 12,16; 20,8 f.).
Für den Erfolg des Heilsprojekts muss Jesus nach N., um Gottes »Befehl auszuführen, eine kognitive Reaktion hervorrufen, damit die Menschen erkennen, dass er Gott offenbart« (273). Nicht das Kreuz Jesu, sondern die »Erkenntnis seiner Identität ist es, die das Heil bewirkt« (185). Entsprechend werden Belege für eine Heilsbedeutung des Todes Jesu umgedeutet.
Den differenzierten Analysen von R. Metzner zum johanneischen Sündenbegriff setzt N. entgegen, dass Sünde im Johannesevangelium stets »Ablehnung Jesu« (155) sei, und bemängelt, 1,29 werde von diesem Verständnis weithin ausgenommen, wo doch »sonst im Evangelium … nur Glaube die Sünde beseitigt« (156). Zu diesem Pauschalurteil gegen den Wortlaut des Textes tritt ein weiteres hinzu, das den durchweg negativen Charakter der Welt (s. 157) auch für 6,51c betont und auf das menschliche Handeln zur Verwirklichung des Heils abhebt: »Durch Jesus bekommen die Menschen die Möglichkeit, Leben zu erhalten und zugleich der Welt zu entkommen« (265). Auf diese Weise entzieht N. der Feststellung über die Heilsrelevanz des Kreuzes die exegetische Basis.
Ferdinand Hahn hatte einst positiv von einer theologia crucis (Studien I, 601) gesprochen und festgestellt, »daß es eine Heilsverwirklichung allein durch das Sterben Jesu gibt« (a. a. O., 602). N. hat den Rezensenten nicht vom Gegenteil überzeugt.